Grim - Das Erbe des Lichts
niedergelassen hatte und vorsichtig über ihr Haar strich. »Sie ist die Frostsängerin, die ihr Kobolde in euren Liedern besingt, und sie ist es, die früher den Schnee brachte in einer warmen Oktobernacht. Es schneit nicht grundlos in der Oberwelt von Paris: Das ist ihr Werk. Sie hat die Alben gerufen, und dadurch bekamen diese Kreaturen der Nacht ein Stück von ihrer Macht. Sie ist der Winter, das Eis und der Schnee, aber auch der Flug der Raben über einem brachliegenden Feld oder der Raureif, der sich über junge Rosenblüten zieht. Selbst die Menschen kennen sie, hast du das vergessen?«
Er schaute Grim an mit seinen Augen, in denen sich nichts und niemand spiegeln konnte, und Grim fröstelte, als ihm die Zeile einer Geschichte durch den Kopf ging, die er schon oft vor den Fenstern der Menschen mitangehört hatte. Da beugte Mia sich vor und zitierte die Zeilen aus dem Märchen von Hans Christian Andersen, die Grim gerade durch den Sinn gingen.
»Manche Mitternacht fliegt sie durch die Straßen der Stadt und blickt zu den Fenstern hinein, und dann frieren die gar sonderbar und sehen wie Blumen aus«,
flüsterte sie.
Theryon nickte langsam. »Früher tat sie das oft, damals, als sie noch ein Teil dieser Welt war.
Und sie flog mit ihm, flog hoch hinauf auf die schwarze Wolke, und der Sturm sauste und brauste; es war, als sänge er alte Lieder. Sie flogen über Wälder und Seen, über Meere und Länder; unter ihnen sauste der kalte Wind, die Wölfe heulten, der Schnee knisterte; über demselben flogen die schwarzen, schreienden Krähen dahin; aber hoch oben schien der Mond so groß und klar, und dort betrachtete Kay die lange, lange Winternacht. Am Tage schlief er zu den Füßen der Schneekönigin.«
Grim schauderte, und er wusste nicht, ob die Kälte, die er gerade empfand, von den Worten Theryons auf seine Schultern gezaubert worden war oder doch von dem rußgeschwärzten Glas herrührte, das einen Teil der Macht gefangen hielt — einen Teil der Macht der Schneekönigin.
»Was hat sie vor?«, fragte Mia und fuhr mit der Hand zu der Stelle, an der die Scherbe steckte.
Theryon öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Augenblick zerriss ein gewaltiger Knall die Luft. Grim sah noch, wie das Glas des schwarzen Behälters zerbrach und ein graues, schattenhaftes Licht auf Theryon zuraste. Der Feenkrieger fuhr herum, mit brennender Kraft schnitt sein Feuerzauber das Licht mittendurch, doch während die eine Hälfte in der Luft zerstob, setzte die andere ihren Weg fort. Mia schrie auf, und Grim sah mit Entsetzen, wie das Licht Theryons Brust durchschlug. Er hörte das Brechen der Rippen und roch das schwarze Blut der Feen. Für einen Moment blieb Theryon stehen, das Licht hinter ihm löste sich auf. Grim meinte, ein eisiges Lachen zu hören. Dann sackte Theryon nach vorn. Grim fing seinen Sturz ab. Er fühlte, wie der Feenkrieger in tiefe Ohnmacht abglitt, schon wurde sein Körper eiskalt. Mia sprang auf, sie schwankte kurz, aber in ihren Augen lag wilde Entschlossenheit.
»Vraternius!«, rief sie verzweifelt. »Wir müssen ihn rufen! Theryon wird sterben, wenn ihm niemand hilft!«
Vorsichtig legte Grim den Feenkrieger auf das Bett. Theryons Kraft rann aus seinem Körper wie Wasser aus einem zerbrochenen Gefäß. »Ich hole Vraternius«, sagte er angespannt. Er warf Mia einen Blick zu, Angst und Sorge machten ihr Gesicht blass. Dann wandte er sich ab, stürzte aus dem Gebäude und erhob sich in die Luft. In seinem Kopf hallte ein Lachen wider, das ihn bis ins Mark erschütterte — das kalte Lachen der Schneekönigin.
Kapitel 12
heryon atmete nicht. Mia wusste, dass er seine Kräfte schonte, indem er auf frische Luft verzichtete, sie wusste auch, dass er als Feenkrieger nicht sterben musste, nur weil er das Atmen unterließ. Aber sein Gesicht war von wächserner Blässe, die Adern unter seiner durchscheinenden Haut färbten sich zusehends schwarz, und ein feines Rinnsal aus Blut lief aus seinem linken Auge, als würde er weinen. In seiner Brust klaffte eine tiefe Wunde. Mia vermied es, sie anzuschauen, aber sie wusste, dass Theryons Blut die Laken des Bettes tränkte, an dem sie kniete und seine Hand hielt.
Hinter ihr an der Wand standen mehrere Thoronmenschen. Sie waren ins Zimmer geschlichen, lautlos und geduckt, und schauten mit ängstlichen Gesichtern auf Theryon. Nur Mio war an sein Bett getreten und verharrte regungslos, den Blick unverwandt auf Theryons Augen gerichtet. Mia spürte seine
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