Grim - Das Erbe des Lichts
Verzweiflung, und sie hätte ihm gern etwas Tröstendes gesagt, aber jedes Wort wäre eine Lüge gewesen. Sie zwang sich, die Hoffnung in sich wachzuhalten, die Hoffnung darauf, dass Theryon nicht sterben würde. Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Sie hatte Angst vor ihm gehabt, damals auf dem Friedhof. Dann hatte er um Jakob geweint, sie sah ihn vor sich, diesen fremden, schönen Krieger mit den rätselhaften Augen, sie begrüßte ihn noch einmal in seinem Versteck in der Engelsburg und wurde noch einmal von ihm in Magie unterwiesen. Und sie weinte erneut zu seinen Füßen, weinte, da er sie zu sich selbst geführt hatte, und war hinterher befreit und ruhig.
Mia spürte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen, und sie legte ihr Gesicht auf seine Hand. Und da, als hätte er diese Berührung gefühlt, bewegte er die Finger. Sie hob den Blick. Für einen Moment ging ein Bild durch seine Augen, die ansonsten stets die Ebene mit dem roten Mond zeigten: Mia schaute sich selbst ins Gesicht, sah sich, wie sie an Theryons Bett saß und weinte. Im nächsten Augenblick drängte Nebel von den Rändern seiner Augen, schwarze Schleier, die das Bild mit sich nahmen und Mia in undurchdringliche Finsternis blicken ließen. Sie biss sich auf die Lippe. Theryon war ein Krieger. Er würde nicht sterben — nicht jetzt, nicht einfach so. Sie umfasste seine Hand und sprach in Gedanken zu ihm, und auch wenn er nicht antwortete, wusste sie doch, dass er ganz in ihrer Nähe war. Er hörte ihr zu aus der Dunkelheit, in die ihn die Königin geschleudert hatte, und trank das Licht, das an ihren Worten haftete.
Endlich hörte sie Grims schwere Schritte auf dem Gang. Sie sah ihn mit Remis hereinkommen, dicht gefolgt von Vraternius. Ernst nickte der Gnom den Anwesenden zu und eilte zu Theryons Krankenbett. Mio wich zurück, und auch Mia trat zur Seite. Ihre Kleider waren mit Theryons schwarzem Blut befleckt, ebenso wie ihre Hände, und ein Zittern lief über ihren Körper, das sie nicht unterdrücken konnte. Grim ging zu ihr und zog sie an sich. Seine Nähe vertrieb die Kälte von ihren Schultern, aber die Angst und die Anspannung konnte auch er ihr nicht nehmen.
Vraternius bewegte seine linke Hand über Theryons Wunde. Mit angehaltenem Atem sah Mia zu, wie schwarze Funken von seinen Fingern rieselten und zischend auf Theryons Körper fielen. Beißender Qualm stieg auf, doch sein Fleisch begann zu heilen, es bildete neue Fasern und Muskelstränge und zarte, durchscheinende Haut. Murmelnd setzte Vraternius seine Arbeit fort, immer wieder bewegte er die Hände über der Wunde.
Mia spürte einen Luftzug hinter sich und sah, dass zwei Nornen an ihr vorbeischritten. Nornen, die Heilerinnen Ghrogonias, spürten es, wenn jemand mit dem Tod kämpfte, und oft konnten sie demjenigen mit ihrer Macht beistehen. Mia hatte schon oft Nornen gesehen, und doch empfand sie jedes Mal von Neuem etwas wie Ehrfurcht, wenn sie diese ätherischen Wesen betrachtete. Beide waren in lange Tuniken gehüllt, der Stoff ließ die Arme frei und umschmeichelte die großen, wohlgewachsenen Körper wie Seide. Helles Licht schimmerte auf der Haut der Nornen, als würden sie vom Mond beschienen, und ihre Haare, die bei der einen kastanienbraun waren, bei der anderen flachsblond, waren zu kunstvollen Locken aufgesteckt. Während die Blonde an der Tür stehen blieb, trat die Dunkelhaarige ans Kopfende von Theryons Bett. Ihr Gesicht war ebenmäßig wie das einer griechischen Statue und ihre Augen von flirrendem Gold. Sie besaß keine Pupillen, was ihrem Blick etwas Unheimliches verlieh und Mia stets an die rätselhaften Augen einer Sphinx denken ließ. Lautlos legte die Norne ihre Hände an Theryons Wangen, und ihre Augen veränderten sich. Erinnerungen, Gedanken, Träume flogen hindurch wie ein flatternder Schmetterling. Mia wusste, dass sie nachforschte, wie es um Theryon stand, wo er sich auf dem Weg zwischen Tod und Genesung befand. Atemlos sah sie in das reglose Gesicht der Norne. Ganz kurz flackerten deren Augen in blauem Licht — dann wurden sie schwarz. Gleichzeitig fuhr Vraternius fluchend zurück. Die Funken, die er über Theryons Wunde ausgegossen hatte, erloschen auf dem Fleisch, die gerade genesenen Stellen kehrten in ihren vorherigen Zustand zurück. Erneut trat Blut aus der Wunde. Mia sah Theryons Hände zucken, ihr schien es, als wollte er nach ihr greifen.
»Seine Lebenszeit ...«, sagte die Norne mit hauchfeiner Stimme und schaute Mia direkt an. »Sie
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