Grim - Das Erbe des Lichts
Schattenflüglern, die vor wenigen Stunden in diesen Mauern gestorben waren, niedergemetzelt von Alvarhas und seinen Schergen.
Zwei hatten überlebt — zwei von vierzehn. Auch jetzt waren Gargoyles anwesend, regungslos standen sie als Statuen getarnt in der Eingangshalle des Louvre. Mia sah, wie die Menschen sie anschauten, immer wieder schnappte sie Gesprächsfetzen darüber auf, aus welchem Zeitalter diese Arbeiten wohl stammen mochten. Ja, die Menschen schauten die Gargoyles an, aber sie erkannten sie nicht — und nicht nur aufgrund des Zaubers des Vergessens, sondern weil sie gar nicht auf die Idee kamen, etwas anderes hinter der steinernen Fassade zu vermuten als das, was ihnen bekannt war. Die Menschen waren blind, das hatte Mia immer gefühlt, und doch tat es ihr weh, jedes Mal, wenn sie sich dessen bewusst wurde.
»Ausgezeichnet«, sagte eine dunkle, angenehme Stimme hinter ihr. Sie hob den Blick und sah, dass Lyskian zu ihr ans Geländer trat. Er trug einen dunkelroten Samtmantel, der bis zum Boden reichte und von bronzefarbenen Knoten geschlossen wurde. Sein Haar fiel in sanften Wellen auf seinen Rücken, und sein Blick glitt wie ein seidenes Tuch über die Köpfe der Menschen. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein — auf den ersten Blick. Seine Wangen glühten ein wenig, als er den Arm um sie legte und lächelte.
»Du solltest deine dunklen Gedanken für heute Nacht verbannen«, sagte er sanft.
Sie spürte die Kälte, die von seinem Körper ausging, und lächelte ein wenig. Sie machte sich nichts vor. Er war es gewohnt zu bekommen, was er wollte, und ihr Blut gehörte eindeutig dazu. Sicher: Lyskian war Grims Freund, und sie wusste, dass er auch sie mochte — sofern ein solches Gefühl von Vampir zu Mensch überhaupt möglich war. Aber gleichzeitig war er der Prinz der Vampire, ein Blutsauger, der Jahrhunderte überlebt hatte — und das gewiss nicht nur mit Konserven aus Blut. Sie hörte allerlei von wilden Festen in den Villen der vampirischen Oberwelt von Paris, und mehr als einmal schon war es vorgekommen, dass sie Lyskian durch eine unbedachte Berührung oder plötzliche körperliche Nähe aus dem Konzept gebracht hatte. Dann hatte das tiefe Schwarz seiner Augen sich in etwas anderes verwandelt, etwas, das sie aus den Blicken großer Raubkatzen kannte, kurz vor der Fütterung: eine mächtige, haltlose Gier, die nach Entfesselung schrie. Lyskian war ein charmanter, hochintelligenter Verführer, aber er war auch ein Mörder. Mia wusste, dass sie das im Umgang mit ihm niemals vergessen durfte.
Lächelnd legte er ihre Hand auf seinen Arm. »Bereit?«, fragte er leise.
Sie holte tief Luft und nickte. »Bereit.«
Gemeinsam schritten sie die geschwungene Treppe hinab. Lyskian verursachte keinerlei Geräusch, und obwohl Mia normalerweise beim Treppensteigen immer auf die Stufen schaute, um nicht hinzufallen, richtete sie nun den Blick auf die Menschen unten im Saal. Sie fragte sich, ob Lyskian sie mit vampirischer Geschwindigkeit auffangen würde, wenn sie auf einmal das Gleichgewicht verlöre, und musste über diese Vorstellung lächeln.
Ich bin ein Kavalier der ersten Stunde,
hörte sie Lyskians Stimme in ihrem Kopf.
Natürlich würde ich das.
Seufzend stieß sie die Luft aus und errichtete einen Schutzwall um ihre Gedanken. Genau so etwas hatte sie gemeint. Wenn man nicht aufpasste, war man Lyskian schneller verfallen, als man
Blut
sagen konnte. Sie erreichten das Podest, und während Lyskian ans Mikrofon trat, begannen die Menschen im Saal zu klatschen.
»Willkommen«, begann Lyskian, und seine Stimme umhüllte die Gäste wie warme Schleier. »Willkommen bei der Ausstellung
Magische Träume,
während der ich Ihnen einige exklusive Stücke meiner privaten Sammlung zeigen werde. Jene unter Ihnen, die mich bereits kennen, wissen schon, dass ich kein Freund vieler Worte bin. Ich lasse lieber Taten sprechen, und jedes der Artefakte, die meine hochgeschätzte Mitarbeiterin Mia Lavie und meine Wenigkeit zusammengestellt haben, ist eben dieses: eine Tat — und eine Frage, die da lautet: Was ist die Wirklichkeit?«
Mia spürte den Schauer, den Lyskians Worte ihr über die Haut schickten, und sie sah den Glanz in den Augen der Menschen, als sie zu ihm aufsahen. Was hätte sie darum gegeben, in diesem Moment in ihren Köpfen sein zu können! Vielleicht hätte sie sich dann weniger allein gefühlt.
»Es gibt Menschen«, fuhr Lyskian fort, und nur Mia fiel die besondere, beinahe zärtliche Betonung
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