Grim - Das Erbe des Lichts
vor. Eine goldene Peitsche schoss aus ihrer Hand, rasend schnell wickelte sie sich um den Hals von Aradis. Mit einem einzigen Zug riss die Königin sie zu sich heran, drehte sie mit dem Gesicht zu Theryon und krallte ihre spitzen Nägel in das Fleisch ihrer Gefangenen.
Grim sah den heillosen Schrecken, der über Theryons Gesicht flackerte, doch die Königin ließ ihm keine Zeit, sich darin zu verlieren. »Du wirst mir folgen«, sagte sie kalt. »Du wirst mein Heer anführen, den ganzen weiten Weg durch die Länder der Menschen, von Norden bis Süden, von Osten nach Westen. Hier wird es beginnen: Hier im Norden wird das erste Blut fließen. Und du wirst es sein, der es vergießt!«
Atemlos sah Grim zu, wie die Königin mit ihrer freien Hand einen waagerechten Kreis in die Luft zeichnete. Sofort schmolz der Schnee, der darunter am Boden lag, und schwarze Flammen stiegen von der nackten Erde an den Rändern des Kreises auf.
»Wenn du dich weigerst«, sagte die Königin lauter, »dann sollst du erfahren, wie es sich anfühlt, das Liebste zu verlieren, das man in der Welt hat.« Sie packte Aradis im Nacken und schleuderte sie durch die Flammen in die Mitte des Kreises. »Eine falsche Bewegung von dir — und sie ist tot!«
Ein Wimmern drang aus Aradis' Kehle. Sie sah Theryon an und schüttelte den Kopf, doch die Königin achtete nicht darauf. Sie fixierte Theryon mit ihrem Blick, der wie unter einem Schlag zusammenzuckte. »Sie wird verbrennen«, flüsterte die Königin. »Die Flammen meiner Kälte werden ihr Fleisch in Fetzen reißen, es wird ein qualvoller Tod sein, dessen kannst du gewiss sein.« Sie machte eine kleine Pause. Theryon atmete schnell. Das Haar war seiner Geliebten ins Gesicht gefallen, doch Grim sah ihre schwarzen Tränen, die als glitzernde Kristalle zu Boden fielen. Hilflos schaute sie Theryon an, sie sprach kein Wort, und doch erkannte Grim, dass sie den Feenkrieger mehr liebte als ihr Leben — dass diese zwei auf eine Weise füreinander bestimmt waren, wie es selbst unter unsterblichen Geschöpfen wie den Feen nur sehr selten vorkam.
»Gib mir das Zepter«, zischte die Königin und streckte die Hand aus.
Da schrie Aradis auf, sie rief etwas in der Sprache der Ersten Feen, das Theryon Tränen in die Augen trieb. Sie wollte nicht, dass er das Zepter freigab, das wusste Grim, und er spürte die Kluft in Theryons Brust, als wäre es sein eigener Schmerz. Für einen Moment war es, als würde Mia in dem Kreis liegen, als ginge es um ihr Leben. Grim hätte nicht gezögert. Er hätte sich ebenso entschieden wie Theryon.
Ein Zittern lief über den Körper des Feenkriegers, als er vor die Königin trat. »Lass sie gehen«, sagte er tonlos. »Ich folge dir.«
Aradis schluchzte auf, doch Theryon wandte sich nicht um. Lautlos löste er das Zepter von seinem Arm und gab es der Königin. In einem Augenblick grenzenlosen Triumphs blickte diese ihren Sohn an. Sie schnippte mit den Fingern. Der Bannkreis öffnete sich, Aradis taumelte ins Freie. Hinter ihr loderten die Flammen auf, sie stürzten sich auf die Erde und den Schnee, als müssten sie sich Ersatz beschaffen für die Beute, die ihnen entgangen war. Schwankend ging Aradis auf Theryon zu und blieb dicht vor ihm stehen. Grim sah die schwarzen Tränen, die ihr über die Wangen liefen, und als sie sich vorbeugte und ihn küsste, da wusste er, dass sie es zum letzten Mal tat. Er brüllte, als sie sich umwandte, doch Theryon hörte seinen Schrei nicht. Noch einmal sah Aradis zu ihm zurück. Dann sprang sie auf den Bannkreis zu — und stürzte sich in die Flammen.
Mit einem Schrei warf Theryon sich vor, doch er konnte sie nicht mehr retten. Binnen weniger Augenblicke war sie zu einem Nebel aus Asche verbrannt. Die Flammen schmolzen zu kleinen züngelnden Lichtern zusammen. Theryon fiel auf die Knie, es sah aus, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Grim konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er sah die Schatten, die sich unter seiner Haut bewegten, und fühlte das tiefe Grollen, das sich schließlich aus seiner Kehle in die Nacht ergoss. Theryons Schrei brach wie Feuer aus seiner Lunge, er entfachte die Flammen, die sich in rasender Geschwindigkeit vermehrten, wie entfesselt über die Ebene rasten und in rotem Schein den Mond verfärbten.
Außer sich sprang der Feenkrieger auf die Füße und stürzte sich auf die Schneekönigin. Grim atmete nicht, als Mutter und Sohn gegeneinander kämpften, er sah nur den Schmerz in Theryons Augen und die Trauer,
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