Grim - Das Erbe des Lichts
auf, mit der er das letzte Wort hervorhob, »die tatsächlich noch klüger sind als ich.« Gelächter flog über die Reihen wie ein unbekümmerter Vogel. Lyskian lächelte geduldig. »Einer dieser Menschen ist Zhuãngzĭ, ein chinesischer Philosoph und Dichter um dreihundert vor Christus. Folgendes ist von ihm überliefert:
Einst träumte Zhuãngzĭ, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Zhuãngzĭ. Plötzlich wachte er auf. Da war er wieder wirklich und wahrhaftig Zhuãngzĭ. Nun weiß ich nicht, ob Zhuãngzĭ geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Zhuãngzĭ sei, obwohl doch zwischen Zhuãngzĭ und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.«
Vereinzelt erklangen Laute der Anerkennung und des Staunens, und Lyskian wartete einen Augenblick, ehe er fortfuhr: »Die Welt ist im Wandel, und die Wirklichkeit verändert sich, je nachdem, wo man steht. Wir sollten es halten wie Zhuãngzĭ in seinem Traum: den Wandel durchlaufen vom Menschen zum Schmetterling, ohne uns fangen zu lassen. Nicht nur einmal werden Sie, meine Damen und Herren, bei der Betrachtung einzelner Gegenstände dieser Ausstellung den Eindruck haben, etwas Unwirklichem, Magischen auf die Spur gekommen zu sein. Doch vergessen Sie nicht: Die Magie lässt sich nicht erkennen. Sie müssen sie — erfühlen! Ähnlich dem Schmetterling, der sich auf eine sonnendurchwärmte Rosenknospe setzt und nichts ahnt von dem Habicht, der ihn bereits im Blick hat. Denn das, meine Damen und Herren, ist die wahre Freiheit des Menschen: der Glaube daran, dass alles möglich ist. In diesem Sinne lade ich Sie herzlich ein, sich mit mir vom Zauber der teilweise jahrtausendealten Artefakte berühren und möglicherweise — wer weiß? — verwandeln zu lassen. Mögen die Träume beginnen!«
Mia applaudierte mit den anderen und hakte sich anschließend bei Lyskian ein, um mit ihm in den Ausstellungsraum zu gehen. Sie lächelte ein wenig. Es war schwer zu glauben, dass ein Untoter mehr von den Menschen begriff als diese selbst.
Sie erreichten den Raum und Mias Herz machte einen Satz. In gläsernen Schaukästen lagen die Artefakte, die sie über so lange Zeit gesammelt hatte, von mehreren unsichtbaren Magienetzen und den steinernen, als Statuen getarnten Wächtern geschützt, die reglos an den Wänden standen und von einigen Gästen ebenfalls für Ausstellungsstücke gehalten wurden. Nun würden die Menschen sie sehen — zum ersten und vielleicht auch letzten Mal in ihrem Leben.
Mia ließ Lyskian mit einigen wichtigen Leuten aus der Politik sprechen und setzte ihren Weg durch den Raum allein fort. Für eine kurze Weile genoss sie die Blicke der Menschen, die sich staunend auf die Artefakte legten, und sie empfand fast so etwas wie Stolz darauf, dass es ihr gelungen war, diese Ausstellung auf die Beine zu stellen. Sie spürte, dass die Menschen sie anschauten, dass sie ein schwarz gekleidetes Mädchen sahen mit ungewöhnlich grünen Augen. Ja, die Menschen sahen sie an — aber sie erkannten sie nicht, und manchmal, wenn sie allein war und darüber nachdachte, wie ihr Leben früher gewesen war, vor Grim und der Anderwelt und der Magie, dann wurde ihr bewusst, dass sie dieselbe Sehnsucht und Einsamkeit noch immer in sich trug, die sie damals in die Dunkelheit getrieben hatte. Sie wollte, dass die Menschen sie erkannten, wollte es mit einer Inbrunst, dass sie manchmal selbst davor erschrak, und hatte gleichzeitig vor nichts auf der Welt solche Angst.
Wie gern hätte sie Jakob an diesem Erlebnis teilhaben lassen. Ein Schmerz durchzog ihre Brust, als sie an ihren Bruder dachte, ein kühler, stechender Schmerz, und sie wusste nicht, ob er von der verfluchten Scherbe herrührte oder von der Sorge, die sie für Jakob empfand. Wieder sah sie sein Gesicht vor sich und hörte seine Stimme — jene Stimme, mit der die Schneekönigin sie dazu gebracht hatte, die Feen in dieser Welt zu schützen. Gedankenverloren schüttelte Mia den Kopf. Mit Leichtigkeit hatte die Königin sie manipulieren können. Jakob hätte sich nicht täuschen lassen. Und ausgerechnet in ihren Händen lag nun das Erbe der Hartide, während ihr Bruder sich in den Klauen der Schneekönigin befand und sie selbst nichts, gar nichts dagegen tun konnte.
Unruhig schaute sie auf ihren Pieper, doch Grim hatte sich noch nicht gemeldet. Ob er und Remis
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