Grim - Das Siegel des Feuers
zugekommen waren. Tausend Tode war sie gestorben, und das nur, weil Grim ihr kein Sterbenswörtchen von seinem schönen Plan erzählt hatte. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Aber funktioniert hatte es immerhin. Ein Schauer flog ihr über den Rücken, als sie an das Gemetzel dachte. Die Hybriden hatten es nicht anders verdient. Sie hatten Jakob in den Tod getrieben — und sie hätten auch sie selbst umgebracht, nur um an dieses verfluchte Pergament zu kommen, was auch immer sie damit wollten. Sie verdrängte das eisige Gefühl, das ihre Magenwände hochkroch. Ja, sie hatten verdient, was ihnen passiert war. Aber einer war entkommen. Grim hatte ihn gehen lassen aus Gründen, die nur er kannte. Remis hatte ihr erzählt, dass Seraphin ihm das Leben gerettet hatte — irgendwo in der Kanalisation von Ghrogonia. Aber war das wirklich alles? Ein seltsamer Ausdruck hatte in Grims Augen gelegen, als sie den Schrottplatz verlassen hatten, und nun, da sie über Paris dahinflogen, schien er in Gedanken versunken.
Unter ihnen lag der Gare de Lyon mit seinem Uhrenturm. Von allen Bahnhöfen in Paris mochte Mia ihn am liebsten. Dennoch blieb ihr fast das Herz stehen, als Grim zur Landung ansetzte. Die Straßen waren voller Menschen! In einer Seitengasse landete er, und sie rutschte von seinem Rücken. Schnell sah sie sich um, aber sie waren allein. Nur manchmal hasteten Menschen auf der Hauptstraße vorüber, doch sie verschwendeten keinen Blick an eine dunkle Gasse. Grim holte tief Atem und sah sie auf eine merkwürdig intensive Art an.
»Entschuldige«, sagte er dann, und diese Bitte kam so unerwartet, dass sie sich anstrengen musste, damit ihr Unterkiefer nicht nach unten klappte. Remis war offensichtlich genauso überrascht, denn er starrte Grim von der Seite an, als hätte der sich in einen Weihnachtskringel verwandelt. »Aber ich konnte dir nicht erzählen, was ich vorhatte. Das hätte zu viel Zeit gekostet, und außerdem ... so war deine Angst viel glaubhafter.«
Mia stieß die Luft aus. »Na großartig!«, rief sie und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie war hoch und piepsig, offensichtlich hatte sie sich noch nicht vollends wieder beruhigt. Sie warf Grim einen wütenden Blick zu. »Das nächste Mal setzt du dich selbst als Köder unter die Laterne, damit das klar ist.«
Grim lächelte ein wenig. »Nehmen wir doch lieber Remis. Dem macht es gar nichts aus, mal ein bisschen durchgeschüttelt zu werden, nicht wahr?«
Remis verdrehte die Augen. »Ihr könnt froh sein, dass ich noch keinen Herzinfarkt bekommen habe. Sehr froh sogar. Ich bin nämlich ...«
Grim wischte durch die Luft. »Ja, ja«, unterbrach er den Kobold. »Wir haben jetzt Wichtigeres vor, als uns gegenseitig Geschichten zu erzählen.« Er sah Mia an. »Ich bin nicht umsonst in dieser Gasse gelandet. Es ist nämlich so ...«, er hielt inne, »ich bin verletzt. Eine Heilung würde jetzt zu lange dauern, und außerdem wissen wir nicht, wofür ich meine Kräfte noch brauche. Aber mit dieser Wunde kann ich nicht mehr fliegen. Wir müssen anders zum Ziel kommen. Dazu musst du wissen, dass es mehrere Eingänge nach Ghrogonia gibt. Die Brunnen, die Kanalisation, die Katakomben ... und eben die Bahnhöfe.«
Mia zog die Brauen zusammen. »Die Bahnhöfe? Die der Menschen?«
Grim nickte. »Durch einen Paktschluss mit einem mächtigen Wesen dieser Stadt hat mein Volk es vor langer Zeit erreicht, die Bahnhöfe für sich nutzen zu können. Hier können die Anderwesen sich frei unter Menschen bewegen, ohne dass diese es ahnen würden, und so bequem nach Ghrogonia gelangen — und an andere Orte in und unterhalb von Paris. Aber dafür müssen wir uns verwandeln. Ich wollte nur, dass du vorbereitet bist.«
Mia sah ihn an und verstand überhaupt nichts. Sie hörte, wie er einen Zauber murmelte. Gleich darauf fasste er sich an die Brust und stöhnte. Sie wollte gerade nach seinem Arm greifen, um ihm zu helfen, als sie sah, wie seine steinerne Haut sich zurückzog. Stattdessen überzog bronzefarbene Menschenhaut seinen Körper, seine Klauen verwandelten sich in menschliche Hände, und sein Gesicht ... Mia wusste, dass sie ihn anstarrte, aber sie konnte nicht anders. Noch immer hatte er die Narbe über dem Auge, noch immer den trotzigen, fast wütenden Ausdruck im Blick — aber sie schaute in das Gesicht eines Menschen. Dunkles Haar fiel ihm in die Stirn, seine Wangen schimmerten leicht im Licht des Mondes, und seine Lippen wirkten so weich, dass sie
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