Grim - Das Siegel des Feuers
Kaltes ihre Wange streifte. Es fühlte sich an wie ein eisiger Finger. Im selben Moment hörte sie eine Stimme durch die dumpfe Benommenheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte.
Höre auf dein Gefühl. Sieh hinter die Dinge.
Mit einem Schlag war sie hellwach. Sie riss die Augen auf. Noch immer hielt Grim sie im Arm, er lächelte, doch seine Hand, die die ihre umfasst hielt, war kalt geworden, und Mia stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass sich die Haut von seinen Fingern zurückzog. Das Fleisch brach auf, steinerne Knochen traten hervor. Seine Klaue verfaulte in rasender Geschwindigkeit. Erschrocken sah sie ihm ins Gesicht, doch an Stelle der Augen klafften zwei blutige Höhlen. Die Lippen waren zurückgetreten, und eine schwarze, modrige Zunge leckte über faulende Zähne. Seine Kleider hingen wie Totengewänder von seinem Körper. Ein Schnarren drang aus seinem Mund, als würden sich Leiber von Asseln in seiner Kehle aneinander reiben. Sie hörte Gelächter um sich herum, und da sah sie die anderen — unzählige verfaulende Geschöpfe, die gierig zu ihr herüberstarrten. Noch immer lächelnd beugte ihr Tanzpartner sich vor, dass sie seinen eisigen Atem im Gesicht fühlte. Sie riss an ihrer Hand, doch sie konnte sich nicht von ihm lösen. Stattdessen fühlte sie, wie seine Kälte ihr die Wärme absaugte. Das Leben wurde ihr aus dem Leib gerissen, sie konnte es fühlen. Alles in ihr zog sich zusammen, jeder Schrei, jede Spur von Angst, und wurde zu einem einzigen Wort.
»Grim!«, schrie sie, so laut sie konnte.
Das Wesen fuhr zurück, es schnarrte ärgerlich. Im nächsten Moment sprang etwas durch den Nebel, es schlug der Kreatur in den Rücken — und sie zerstob wie eine Figur aus Schnee. Grim zog Mia an sich. Sie hörte sein Herz wie das Schlagen einer Glocke in der Ferne. Remis kletterte schreckensbleich auf ihre Schulter.
»Keine Angst«, flüsterte Grim. »Das sind die Toten. Sie betäuben uns mit ihrem Gift. Dann saugen sie uns das Leben aus, bis wir genau so sind wie sie. Höre auf meine Stimme.«
Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich. Flirrend legte sich ein goldener Schutzschild über sie. Langsam bewegten sie sich vorwärts, und Mia hörte Grims Stimme, dunkel und beruhigend, als würde er mit ihr durch einen Märchenwald gehen. Mit dem rechten Arm hielt er sie fest, seine linke Hand umfasste die ihre. Manchmal hörte sie Schreie, sie klangen wie Kinder in Todesangst, und immer wieder sprangen die Toten gegen ihren Schutz, als könnten sie ihn mit ihren faulenden Gliedern zerfetzen. Doch kaum hatten sie ihn berührt, entfachte sich ein Feuer auf ihren Körpern und sie verbrannten, bis nichts mehr von ihnen übrig war als schwarzer Nebel.
Mias Herz schlug bis zum Hals. Aber Grim ließ sie nicht los. Sie erinnerte sich an einen Winter, in dem sie mit ihren Eltern im Auto durch die Nacht gefahren war. Niemand war ihnen begegnet, sie waren ganz allein gewesen mit der Dunkelheit und den Schneeflocken, die auf sie zugerast waren wie Sterne. Wie sicher sie sich gefühlt hatte. Sie schloss die Finger um Grims Klaue. So wie jetzt.
Sie wusste nicht, wie lange sie so gegangen waren, als Grim stehen blieb. Der Nebel lag hinter ihnen.
»Wir haben es geschafft!«, rief sie und hörte, wie ihre Stimme voll und warm an den Felsen widerklang.
Grim lächelte. »Sieht ganz danach aus.«
Remis fuhr sich über die Augen. »Ich bin fix und fertig, hört ihr? Ich wusste ja, dass es Geister gibt — wie sollte ich das nicht wissen, schließlich bin ich ein Kobold, und Kobolde sind überaus intelligent. Aber das da ...«, er deutete mit dem Daumen hinter sich, »sind die verrücktesten Geister, die mir jemals begegnet sind.«
Grim nickte langsam. »Diese Felsen tragen das Blut von Jahrhunderten in sich. Viele sind hier zu Tode gekommen, aber ihr Hass, ihre Angst und ihre Verzweiflung sind noch immer da. Und sie stürzen sich auf alles, was lebt.«
Remis seufzte hingegeben. »Aber wir haben sie überwunden. Wir haben uns nicht einlullen lassen von ihren Gesängen, wir hatten etwas, das stärker war als das, nicht wahr?« Er zwinkerte Grim zu, der ungehalten die Luft ausstieß. Unbeirrt fuhr der Kobold fort: »Jetzt müssen wir nur noch Pheradin finden. Und ich weiß auch schon, wo.«
Mia folgte seinem Blick, und jetzt sah sie, wonach sie gesucht hatten: In gleicher blutroter Farbe wie das Gebirge und teilweise mit ihm verwachsen erhob sich Thyros vor ihnen — die verlassene Stadt. Vor ihren Toren erstreckte sich ein
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