Grim - Das Siegel des Feuers
schneebedeckter Park. Mia zog die Brauen zusammen.
»Schnee?«, fragte sie misstrauisch. »Wir sind unter der Erde. Wie kann es hier schneien?«
»Schnee ist Magie«, erwiderte Grim düster. »Und er kündigt Unheil an. Welchen Grund brauchst du noch?«
Kapitel 29
er Park lag da wie ein Märchenwald im Winter. Hecken und Stauden waren zu labyrinthähnlichen Gebilden geschnitten worden, die Bäume umfassten geschwungene Kieswege, und überall lag Schnee, so unberührt und gleichmäßig, als hätte jemand Puderzucker aus einem riesigen Sieb gestreut. Hoch über ihnen thronte die Stadt. Sie schien wie aus dem Gebirge gewachsen zu sein, und trotz ihres Verfalls überkam Grim ein Schauer der Ehrfurcht, als er zu ihr aufsah. In ihrer Blütezeit musste sie dreimal so groß gewesen sein wie Ghrogonia jetzt. Er sah die Reste gewaltiger Kathedralen und Türme, deren Stein so edel war, dass er sanft schimmerte. Hier hatte Konis die Macht errungen, hier waren blutige Schlachten geschlagen worden. Die Goldene Stadt hatte einst über die Anderwelt geherrscht. Doch nun war nichts als Verfall übrig geblieben. Wie Scherenschnitte ragten die Ruinen von Thyros hinter dem weißen Park auf.
Kaum hatte Grim das gedacht, begann es zu schneien. Misstrauisch sah er sich um. Auf einmal hatte er das Gefühl, als würde ihn jemand anstarren, als würden sie verfolgt werden, als wären es nicht nur Schatten, die zwischen den Bäumen und Büschen lauerten. Im gleichen Moment sah er die Spuren im Schnee. Sie begannen zwischen den Häusern der Stadt und endeten neben einer dichten Hecke. Dann führten sie denselben Weg wieder zurück. Grim kniete sich neben die Fährte, die verteufelte Ähnlichkeit mit menschlichen Stiefelabdrücken hatte. Seine Finger zeichneten Tiefe und Länge nach.
»Kein Mensch hat so große Füße«, stellte er fest. Mia hockte sich neben ihn und verfolgte die Spur mit ihrem Blick bis hinauf zu den dunklen Häusern der Stadt. »Und kein Mensch ist so schwer.« Er sog die Luft ein und fand seinen Verdacht bestätigt. Steinblut. »Diese Spur stammt von einem Gargoyle.«
Remis riss die Augen auf. »Er hat uns beobachtet«, flüsterte er mit erbärmlich zitternder Stimme. »Er hat uns vermutlich schon von da oben kommen sehen, dann ist er bis zur Hecke gegangen, wo wir ihn nicht sehen konnten — und wie ein Geist wieder verschwunden!«
Grim verdrehte die Augen. »Von Geistern habe ich für heute die Nase voll.«
»Wir haben frische Fußspuren gefunden«, sagte Mia aufgeregt. »Von einem Gargoyle! Ist euch eigentlich klar, was das bedeutet?«
Natürlich war Grim das klar — glasklar sogar. Aber er fand es viel amüsanter, das nicht zuzugeben.
»Pheradin ist hier, das heißt es«, sagte Remis mit Strebermiene. »Oder ein anderer Gargoyle. Einer, der sich hierher zurückgezogen hat. Einer, von dem niemand mehr weiß. Einer, der nicht gefunden werden will.«
Grim erhob sich. »Ich würde sagen, dass er Pech gehabt hat, wenn das tatsächlich so ist. Denn finden werden wir ihn. Dafür hat er selbst gesorgt.«
Sie folgten den Fußspuren, und Grim stellte fest, dass sich ein Gefühl der Unruhe in seiner Brust einnistete, als er an Pheradin dachte. Er jagte ein Phantom und war sich nur in einer Angelegenheit vollkommen sicher: Schon damals, zur Zeit seines Verschwindens, war Pheradin ein alter und mächtiger Gargoyle gewesen. Grim konnte sich nicht erklären, aus welchem Grund er sich in den Todesgürtel begeben haben mochte, aber sollte er sich tatsächlich in die Ruinen von Thyros zurückgezogen haben, dann lebte er seitdem in absoluter Isolation. Wer konnte wissen, was die Zeit aus Pheradin gemacht hatte?
Sie erreichten die ersten Häuser der Stadt, und Grim stellte fest, dass der Schnee mit leisem Zischen auf den blutroten Steinen einiger Gebäude schmolz. Er legte seine Klaue auf die Wand eines eingestürzten Hauses. Sie bestand aus edelstem Karemtyx, der die Sonnenwärme für eine Ewigkeit speichern konnte — und sie war noch immer warm. Langsam gingen sie eine breite Straße hinunter. Die Fußspuren verliefen in beinahe identischen Abständen in der Mitte. Ringsum erhoben sich dunkle Gebäude. Ghrogonia fiel Grim ein, dieses gewaltige Saurierskelett, in dem sich die verschiedensten Völker eingenistet hatten, und der Lärm, der nie ganz verebbte. Hier war es so still, dass man das Fallen der Schneeflocken hören konnte. Geisterhaft ragten die verkohlten Grundmauern einer Kathedrale auf oder die Säulen eines
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