Grim - Das Siegel des Feuers
unsere Gefühle zu hören? Sie zeigen uns, dass wir lebendig sind, oder etwa nicht?
Sie lächelte. Ausnahmen bestätigten die Regel.
Theryon deutete auf die Kerze, die zu Mias Erstaunen wieder unversehrt an ihrem Platz stand. »Phantasie ist ein wesentliches Element, wenn nicht sogar die Basis aller Magie. Ohne Phantasie wird dir kein Zauber gelingen. Du musst sehen, was geschieht, ehe es passiert. Versuche es noch einmal.«
Mia schloss die Augen. Wieder ritt sie auf ihrem Pferd, wieder trieb sie die Herde zusammen, und der Vogel erhob sich aus den Fluten. Doch dieses Mal war er kleiner als zuvor, und er schimmerte nur schwach im Tosen der Wellen. Für einen Moment hielt sie inne. Sie sah die Kerze vor sich, nahm ihren Duft wahr, betrachtete den Docht und stellte sich vor, wie er sich unter der Hitze des Feuers zusammenkrümmen und brennen würde. Dann flüsterte sie die Worte. Warm schoss das Feuer durch ihre Finger, ein leises Knistern war zu hören — und der Geruch von brennendem Wachs. Mia riss die Augen auf. Die Kerze vor ihr erstrahlte in goldenem Licht.
Theryon legte zwei Finger auf ihren Brustkorb. »Das Siegel des Feuers verlangt von dir, den Zauber zu sprechen, damit du das Pergament lesen kannst. Er trägt die Formel
Hor adon fhur — sprich zu mir.«
Seine Finger waren eiskalt. Aber auf einmal spürte Mia etwas in sich, ein Licht und eine Wärme, die zuvor nicht da gewesen waren. Theryon hatte sie erweckt. Mit klopfendem Herzen zog sie das Pergament aus der Tasche. Ihre Hände zitterten, als sie es auseinanderfaltete und die Worte murmelte.
Und dann sah sie es. Goldene Zeichen, fein säuberlich aneinandergereiht wie eine kostbare Kette, die sich langsam zu anderen Gebilden verbanden. Schon verstand Mia einzelne Worte.
Sie atmete nicht, als sie mit dem Finger darüberstrich und feine Funken über die Zeichen liefen, als wollten sie sie begrüßen. Doch kaum dass sie sich der ersten Zeile zugewandt hatte, verblassten die Zeichen und sanken ins Pergament zurück wie Steine, die man ins Meer wirft.
»Nein!« Mia griff nach ihnen, doch ihre Finger schlugen hart auf den Tisch. Schmerz durchzuckte sie, dicht gefolgt von endloser Enttäuschung. »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, ich kann sie lesen, wenn ich meine Magie gefunden habe! Hast du nicht ...«
Sie brach ab, denn sie spürte, dass sich ihre Kehle zusammenzog. Theryon sah sie an. Sein Gesicht wirkte noch durchscheinender als sonst.
»Ich hatte es befürchtet«, sagte er wie in Gedanken. »Du wirst dich weiteren Aufgaben stellen müssen, ehe das Pergament dir sein Geheimnis offenbart. Doch ein erster Schritt ist getan. Deine Magie ... sie ist erwacht.«
Kapitel 37
rim saß an einem großen runden Tisch und starrte so wütend auf seine Klauen, dass es ein Wunder war, sie nicht in Flammen aufgehen zu sehen. Er trug einen Button, und — was noch schlimmer war — er hatte eine lächerliche Baskenmütze auf dem Kopf. Sie war zu eng und schnürte ihm das Gehirn ab, und außerdem sah sie so albern aus, dass es wirkte, als hätte sich irgendein merkwürdiger Gargoyleverein zu seiner wöchentlichen Gesprächsrunde getroffen. Denn er war umringt von Schattenflüglern, die genau die gleichen Buttons und Mützen trugen wie er. Einige Jungspunde waren anwesend, aber auch ein paar seiner früheren Gefährten aus der alten Zeit: Ihm gegenüber saß Kronk mit seinen rabenschwarzen Augen und neben ihm Walli, der steinerne, abergläubische Bär, der Budapest aus den Fängen der Gestaltwandler befreit hatte. Auch Pyros und Vladik waren da, starke Krieger zu Zeiten der Erschließung der Pariser Katakomben für die Anderwelt, und andere, mit denen Grim vor Ewigkeiten gemeinsam gekämpft hatte. Doch diese Zeiten waren lange vorbei, ihr Ruhm war vergessen und ihre Helden ... Grim betrachtete die Mützen auf ihren Köpfen. Mourier hatte irgendetwas von Teamgeist und Zusammenhalt gesagt, als er sie verteilt hatte — der genaue Sinn dieser Kopfbedeckungen hatte es allerdings nicht geschafft, durch die Mütze bis in Grims Gehirn vorzudringen. Jetzt fehlten nur noch die Vereinsfahnen und T-Shirts mit passendem Logo, und der Club der Witzfiguren wäre geboren gewesen. Er warf Karphyr einen Blick zu, der ein wenig verloren am anderen Ende des Tisches saß und auf seine Pranken schaute. Selbst der Drache war als Gastgeber unter eine dieser albernen Mützen gezwängt worden.
Mit finsterer Miene sah Grim, wie Mourier auf seinem Thron Platz nahm. Neben ihm hockte
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