Grim - Das Siegel des Feuers
Plötzlicher Wind fegte durch den Raum, er riss an Mias Mantel und schlug ihr die Haare ins Gesicht. Sie klammerte sich an die Tür, hörte Stimmen, Tausende von Stimmen, die schreckliche Lieder sangen und Geschichten erzählten, Geschichten von einer anderen Welt, fern, fern von hier. Erschrocken sah sie, wie Theryon in die Luft gehoben wurde, der Wind um ihn herum verdichtete sich zu einem Wirbel, er riss ihm das Haar in den Nacken, dann schnitt er ihm ins Fleisch. Mia schlug sich die Hand vor den Mund. Theryons Haut riss von seinem Körper, der Wind leckte ihm mit seinen Stimmen das Fleisch von den Knochen. Theryon drehte sich rasend schnell, sein Gesicht war nichts mehr als dunkle Augenhöhlen. Kälte ging von ihm aus. Der Wind wurde zum Sturm, er schlug Mia ins Gesicht und presste sie gegen die Wand. Sie konnte die Augen nicht offen halten, bekam kaum noch Luft, sie wollte schreien, doch im nächsten Moment war es vorbei. Sie fiel vornüber, der Wind hatte aufgehört, die Stimmen waren verklungen. Stille. Schwer atmend kam sie auf die Füße. Jemand trat auf sie zu. Benommen ließ sie den Blick höher gleiten. Theryon stand vor ihr. Er sah genau so aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Und doch hatte er sich verändert — er war neu und doch der Alte.
»Was tust du hier?«
Seine Stimme klang ruhig, aber Mia hörte deutlich den schneidenden Unterton. Da erst sah sie die Flamme. Strahlend weiß schwebte sie über dem Pentagramm, und da waren sie wieder, die Stimmen. Doch dieses Mal riefen sie Mia — ja, sie riefen nach ihr.
Theryon stellte sich ihr in den Weg. »Lass uns gehen.«
Doch Mia achtete nicht auf ihn. Wie in Trance ging sie auf das Licht zu und schüttelte Theryons Hand ab, die sich mit angenehmer Kühle um ihre Schulter geschlossen hatte. Dicht vor der Flamme blieb sie stehen. Alles um sie herum wurde schwarz. Sie sah Wesen im Feuer tanzen, wunderschöne, schreckliche Wesen, die ihre Hände nach ihr ausstreckten. Mia wusste, dass sie sich abwenden sollte — nein, sie
musste
es tun, auf der Stelle. Aber sie konnte es nicht. Sie stand da wie angewurzelt und hatte plötzlich nur noch einen Wunsch: sich ins Feuer zu stürzen, das sie verbrennen wollte. Sie streckte die Hand aus und spürte die Flammen auf ihrer Haut. Sie schrie vor Schmerzen, und doch wollte ein Teil in ihr nicht mehr zurück. Ein winziges Geschöpf mit zarten Flügeln schwirrte zu ihrer Hand, strich beinahe sanft über ihren Finger — und biss mit aller Kraft hinein. Da sprang Mia zurück. Sie sah noch, wie das Wesen sich an die Kehle griff, als sei es vergiftet worden, und reglos zu Boden glitt. Erschrocken hielt Mia ihre Hand umklammert, auf einmal war jeder Zauber vorbei. Sie spürte, dass Theryon hinter ihr stand. Es war, als würde sie neben einem gewaltigen Stück Eis stehen.
»Das ist ...«, begann er, doch Mia wusste, was es war. »... die Welt der Feen.«
Wortlos ließ sie sich von ihm zurück in ihr Zimmer bringen. Sie hatte tausend Fragen, aber sie wusste, dass er keine davon beantworten würde. Vor ihrer Tür blieben sie stehen. Sein Gesicht wirkte aschfahl im Dämmerlicht des Ganges. Er trat näher an sie heran, so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht fühlen konnte.
»Das, was ich dir jetzt sage, werde ich niemals wiederholen«, flüsterte er. »Du hast einen Blick in meine Welt geworfen. Mir schenkt sie das Leben, aber dich würde sie verschlingen — mit Haut und Haaren. Deshalb merke dir meine Worte gut: Halte dich fern von der Welt der Feen. Sie ist nicht für dich bestimmt.«
Kapitel 39
rim spürte sein Blut wie Feuer in den Adern. Lautlos schlich er hinter Mourier durch die Kanalisation Ghrogonias. Kronk und Walli gingen hinter ihm, doch er hörte sie nicht. Dafür roch er Walli umso stärker. Offensichtlich hatte der Bär seinen Hang zum Aberglauben keineswegs abgelegt: Er stank nach Insektenschutzmittel, dass es Grim den Verstand benebelte, denn aus irgendeinem Grund glaubte Walli seit Kurzem, dass er dadurch weniger verwundbar würde, und Grim hatte es aufgegeben, ihm zu erklären, dass Siegfried in Drachenblut und nicht in chemischen Stoffen gebadet hatte und die Sache obendrein trotzdem dumm für ihn ausgegangen war.
Er schaute über die Schulter zurück und erhaschte einen Blick auf Karphyr, der mitunter ein scharrendes Geräusch verursachte, wenn er mit seinem Schwanz die Wände streifte. Krallas bildete das Schlusslicht. Er trug Vraternius, den Alchemistengnom, auf seinem Rücken. Hoch
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