Grim - Das Siegel des Feuers
Gesang war verklungen. Mühsam kämpfte er sich durchs Wasser und erreichte den Jungen, der ruhig zu ihm aufsah. Grim verbrannte sich die Hände an den glühenden Schnüren, als er ihn befreite, aber er achtete nicht darauf. Mit einem Schrei riss er sie entzwei. Für einen Moment sah Grim nichts mehr als die dunklen Augen des Kindes und das zaghafte Lächeln auf dessen Gesicht. Der Junge griff nach seiner Hand und deutete in die Finsternis des Meeres. Grim nickte. Ja, auch er wollte zum Ufer. Gemeinsam würden sie es bis dorthin schaffen. Sie taten den ersten Schritt — und Grim fuhr vor Schmerzen zusammen. Seine Narbe über dem Auge brannte wie Feuer. Er spürte, wie sein Körper weiterging, die Hand des Jungen in der seinen — aber gleichzeitig löste sich etwas aus ihm und schwebte weit weg, bis er sich im Körper eines Kindes auf einer Mauer sitzend wiederfand. Er war nicht irgendein Kind — er war der Junge, der gerade mit seinem Körper durch Bythorsuls Meer spazierte. Vor ihm lag ein schwarz verkohltes Schlachtfeld, in der Ferne glitzerte ein Fluss — und neben ihm saß Seraphin.
Er saß da in Menschengestalt, und jede Härte, jeder Hass, der für Grim unabwendbar in Seraphins Gesicht gehörte, war verschwunden. Er lächelte ein wenig, als er einen Arm um den Jungen legte, der Grim war.
»Stell dir vor«, vernahm Grim seine Stimme und fühlte sich, als würde er einem Freund zuhören, »dass wir gerade nicht auf dem Schlachtfeld der letzten Nacht sitzen, weil Vater uns erziehen und ans Blutvergießen gewöhnen will. Nein. In Wahrheit befinden wir uns auf einem riesigen rotschwarzen Felsen. Dieser Acker ist das Weideland der Einhörner, und der Fluss dort hinten ist nicht die Donau, die im Schwarzen Meer aufgeht. In Wahrheit nennt man diesen Fluss Anorys, und er führt zum Ozean der Nacht. Denn wir sind im Land der Freiheit, und wir tragen das Zeichen des Feuers auf unserer Stirn — das Zeichen für Veränderung ...«
Er sagte noch mehr, aber Grim begriff nur die Hälfte seiner Worte. Es war ein Märchen, eine Geschichte, und während er Seraphin zuhörte, wusste er, dass sie Brüder waren und dass sie niemals etwas anderes getan hatten, als sich andere Welten auszudenken — andere Welten als die Kriegswelt, in der sie leben mussten. Er sah, wie Seraphin ihn weckte in jener Nacht, da er aus seinem Elternhaus floh, fühlte die Umarmung, hörte die letzten Worte, die sie miteinander sprachen. Und dann der Abend, als sie sich wiedersahen. Grim stand an der Tür, er sah seinen Vater mit Seraphin kämpfen — Seraphin, der auf einmal ein Hybrid geworden und dennoch nichts anderes war als sein Bruder. Grim spürte die Angst in seiner Brust, als er sich zwischen die Kämpfenden warf — und den Schmerz, als Seraphins Schwert ihn traf. Er sah nichts mehr als Seraphins Blick und die Verzweiflung darin, und als er starb, fühlte er nur eines: Liebe für ihn, seinen Bruder, der ihn getötet hatte.
Grim spürte die Hand des Menschenkindes in seiner Klaue, als er zu sich kam. Er lag auf feinem Sand. Der Junge legte ihm die Hand auf die Stirn. Sie war kühl und zart wie ein Blütenblatt. Grim öffnete die Augen. Der Junge, dessen Herz er trug, sah ihn an. Sie hatten sich gegenseitig durch die Wellen geführt. Mühsam richtete Grim sich auf und sah die Burg Hels nicht weit entfernt vor sich aufragen. Er kam auf die Beine. Jetzt würde er diesen verfluchten Ort verlassen — so viel stand fest. Er machte einige Schritte auf die Burg zu, doch als er merkte, dass der Junge ihm nicht folgte, blieb er stehen.
Der Junge stand auf, langsam und zögernd. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er zum Abschied die Hand hob und auf das Meer zutrat. Grim wollte ihn aufhalten, er hatte schon die Klaue nach ihm ausgestreckt — und ließ sie tatenlos wieder sinken. Der Junge war nicht gekommen, um für sich den Weg durch die Wellen zu gehen — er hatte es für Grim getan. Er hatte Grim zu sich selbst geführt — und durch die seelenlosen Wasser Bythorsuls.
Grim holte tief Atem, ein seltsames Gefühl hatte in seiner Brust Platz genommen, eine Veränderung, die er erst nach einer Weile begriff: Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er, wer er war. Der Junge ließ das Wasser des Meeres um seine Füße spülen. Noch einmal wandte er sich zu Grim um, und seine Lippen formten vier lautlose Worte:
Leb wohl, mein Bruder.
Dann ging er Schritt für Schritt ins Meer hinein, bis die Wellen über seinem Kopf zusammenschlugen.
Grim fuhr
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