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Grim - Das Siegel des Feuers

Grim - Das Siegel des Feuers

Titel: Grim - Das Siegel des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gesa Schwartz
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eines Menschen zwängte. Nur sein Gewicht konnte sie nicht vollends aufheben, wenngleich er sich kurz nach der Verwandlung immer fühlte, als wäre er gerade auf dem Mond gelandet, so leicht kam er sich vor. Er hatte keine Ahnung, wie er als Mensch aussah, und es interessierte ihn auch nicht. Es war eine Maske, eine Illusion, um sich in einer Institution der Menschen frei bewegen zu können — mehr nicht.
    Trotz der Sonnenbrille kniff er die Augen zusammen, als er den Bahnhof betrat, und das Stimmengewirr der Menschen ließ ihn einen Moment innehalten. Er kannte Wesen, die sich nie daran gewöhnt hatten. Er selbst liebte dieses Geräusch. Es war wie ein Meer, dessen Schaum auf den Wellen Geschichten erzählte, ganz gleich, wer ihm zuhörte: Er tat es für die Geschichten. Das war das Wichtigste. Grim liebte auch die Bahnhöfe selbst, und nicht selten kam es vor, dass er nachts auf den Dächern des Gare de l'Est oder des Gare du Nord landete und durch die hohen Fenster hinunterschaute auf die Menschen. Ameisengleich hasteten sie durch die Gegend, den Kopf voll von Gedanken, einige traurig, viele müde, aber alle hatten sie ein Ziel. An diesem Ort schien es keine Sinnfragen zu geben, die doch die Menschheit sonst ständig umtrieben. Alles war gut so, wie es war, eine in sich geschlossene Welt, in der man nur eine Rolle zu spielen hatte: die des Reisenden. Grim seufzte leise. Die Bahnhöfe machten ihn melancholisch, und wenn er melancholisch war, wurde er zum Philosophen. Zum Glück wusste niemand etwas davon.
    Er betrat die Metro, die scheinbar nur auf ihn gewartet hatte. Kaum spürbar kippte der Zug ein wenig zur Seite, doch die Menschen auf den Plastiksitzen merkten nichts davon. Sie sahen auch nicht, wie der große Mann mit der Sonnenbrille eine der Haltestangen umfasste und in rascher Folge mit seinem Daumennagel dagegen klopfte, als trommelte er im Takt eines Liedes. Grim ließ den Blick durch den Zug gleiten. Keiner der Passagiere beachtete ihn. Nur ein kleines Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, das auf dem Schoß seiner Mutter saß und den Daumen im Mund hatte, starrte ihn an wie gebannt. Ja, Kinder konnten das oft. Sie sahen ihn nicht in seiner wahren Gestalt, aber sie
fühlten,
was er war. Und so sahen sie ihn dann eben doch. Er verzog den Mund zu einem Lächeln. Die Kleine machte es ihm schüchtern nach. Er grinste. Sie lachte glucksend und fröhlich. Er streckte die Zunge raus, so weit er konnte — darin war er schon immer gut gewesen. Das Kind fing auf der Stelle an zu brüllen und heulte Rotz und Wasser. Schnell wandte Grim sich ab. Irgendwie hatte er einfach kein Händchen für Kinder.
    Die Lampen der Bahn begannen zu summen — unhörbar für menschliche Ohren, aber sehr wohl zu hören für die Ohren eines Gargoyles oder für den Werwolf, der während der gesamten Fahrt an der Tür gelehnt hatte. Jetzt stellte er sich neben Grim, nickte unauffällig und starrte geradeaus. Grim kannte diesen Ritus. Aus irgendeinem Grund wurde innerhalb des Metronetzes eine Wir-Gruppe aus allen Anderwesen — jenen Geschöpfen, die sich vor den Menschen verbargen. Die Lichter im Zug gingen aus. Für die Menschen dauerte dieser Moment nur den Bruchteil einer Sekunde — Grim hingegen hatte genug Zeit, hinter dem Werwolf auf einen blitzblanken Bahnsteig aus Marmor zu treten, an dessen Wand in goldenen Lettern stand:
Ghrogonia Nord.
    Langsam wich der Zauber von Grims Körper, und als er seine Hände betrachtete, hatten sie wieder ihre gargoylsche Form. Hinter dem Werwolf und einigen weiteren Anderwesen ging er durch endlose Tunnel und gelangte schließlich in eine Höhle aus blauen Steinen. Drei Säulen ragten in ihrer Mitte auf, in denen freundliche Gargoylefrauen saßen wie in Bahnwärterhäuschen, und vor jeder einzelnen Säule war die Schlange so lang wie der Bart von Methusalem. Grim stöhnte. Diese dämliche Krönungszeremonie. Musste es diesen Zirkus darum geben? Meine Güte, das war ein Rummel fast wie bei den Menschen, ein Marketinggag, der sich um irgendeinen hirnlosen Trend drehte, den eigentlich alle absurd fanden — aber natürlich machte ihn doch jeder mit. Man wollte ja kein Spielverderber sein.
    Grim ließ den Blick über die Wesen schweifen, die mehr oder minder geduldig warteten, bis sie an der Reihe waren. Gargoyles standen da, natürlich, aber auch Trolle und Gnome, Steinfresser, Gestaltwandler, Felsenkäfer — und da winkte eine knallgrüne Pranke durch Grims Blick und brachte ihm

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