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Grim

Grim

Titel: Grim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Schwartz
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Sanft zog sie die Linien, die Luft war wie eine Leinwand unter ihrer Hand, und sie konzentrierte sich auf den Geruch des Terpentins, der ihr so vertraut war. Sie stellte sich vor, in ihrem Atelier zu stehen, sie sah das Licht, das sich in den Kristallen vor den Fenstern brach, sie roch den Duft der Vorhänge, die sie vergessen hatte, und da erkannte sie den Wolf auf der Leinwand in der Ecke, erinnerte sich an den Teller ihrer Mutter und an Lucas’ Hände, schwielig und rau und mit diesem Duft, der sie immer mit einer traurigen Sehnsucht erfüllte und dem Gefühl eines Zaubers mitten in einer leblosen Wüste. Sie fühlte den Schnee im Bois de Boulogne auf ihren Wangen, sie hielt die Augen geschlossen, aber sie schaute sich selbst ins Gesicht und spürte den Wind in ihrem Haar, die Nacht, die sich mit weitem schwarzen Himmel über ihr aufspannte, und den kühlen Stein der Tour Saint Jacques unter ihren Füßen. Atemlos öffnete sie die Augen, und als sie sich im Haus des Hermaphroditen wiederfand, da war der Teller verschwunden, ebenso wie die Staffelei und das Bild des Wolfs.
    Vor ihr jedoch, schwebend in der Luft, hing Noir – jenes Bild, das sie bekannt gemacht hatte. Noch nie hatte sie es auf magische Weise gezeichnet, doch als sie sich zu den Hartiden umdrehte, schien es ihr, als würde sie die Menschen in der Galerie beobachten, wie sie ihr Porträt betrachteten. Radvina trat mit offenem Mund näher, Jaro beugte sich vor, um die Linien genauer sehen zu können, und Edwin stand nur reglos da und schaute in die flammenden Augen des Bildes, in denen etwas lag, das alle drei berührte, ohne dass sie etwas dagegen tun oder es sich erklären konnten. Lyskian sah sie an, ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Mia spürte die Kälte um sie herum nicht länger, und sie fühlte auch keine Furcht mehr. Alles, was sie empfand, war der Glanz, der tief in ihr Inneres sank und es erhellte bei dem Anblick, der sich ihr bot. Auf den Gesichtern der Hartide fand sie denselben Ausdruck, den sie auf dem Bild zeigte: ein haltloses, tief empfundenes Staunen und eine Sehnsucht, die der Beginn sein konnte für eine neue Welt.
    Der Hermaphrodit erhob sich lautlos. Er war größer, als Mia erwartet hatte, und bewegte sich mit so fließenden Bewegungen, als würde er über den Boden schweben. Sein Gesicht zeigte keine Regung, doch als er dicht vor ihr stehen blieb, da sah sie sich selbst gespiegelt in seinen Augen, und sie meinte, ihn lächeln zu sehen. Wortlos hob er die Hand, und kaum, dass er das Bild berührte, zerbrach es in rote Glut. Flackernd legte sie sich um seine Hand, und als er auf die Hartide zutrat und einem nach dem anderen über die Stirn strich, wichen sie nicht vor ihm zurück. Ein sanfter Glanz überzog ihren Körper und erlosch. Radvina schaute staunend auf ihre Hände, Edwin fuhr sich an die Stirn, und auch Jaro schien für einen Augenblick verzaubert – es war, als hätte das Lächeln des Hermaphroditen sie gestreift.
    Kehre mit ihnen zurück , sagte dieser an Mia gewandt. Bleiben sie allein in jener Welt, wird der Schutz erlöschen, und sie werden sterben. Sie sind noch nicht bereit.
    Mia nickte kaum merklich. Sie sah zu, wie Lyskian mit den Hartiden durch die Tür ging, das blaue Licht legte sich sanft auf ihre Gesichter. Kurz vor der Schwelle schaute sie noch einmal zurück. Der Hermaphrodit stand noch immer da, regungslos wie zuvor, und Mia beobachtete, wie sein Zimmer wieder zu dem leeren, weißen Raum wurde. Auch er selbst begann sich aufzulösen, doch er würde neu entstehen – mit jedem Wesen, das ihn aufsuchte an seinem Ort ohne Welt. Sie neigte den Kopf wie bei einer Verbeugung, während er sie schweigend betrachtete, sehnsüchtig wie Menschen in einen Spiegel schauen, hinter dem sie andere, unerreichbare Welten erahnen. Dann wandte sie sich zum Gehen, und als sie über die Schwelle trat, da wusste sie, dass ein Teil von ihm für alle Ewigkeit in seinem Zimmer stehen und ihr nachsehen würde – wie in einem Traum, aus dem es kein Erwachen gab.

Kapitel 27
    Der Gestank von Anis und Zimt war unerträglich. Mit finstererMiene schob Grim sich hinter Samhur den Gang des Zuges entlang und ignorierte die feindseligen Blicke der Vampire, die sich auf den samtbezogenen Sesseln niedergelassen hatten. Es war nichts Neues, dass die Blutsauger in vielen größeren Städten ein eigenes Bahnnetzwerk unterhielten, um weder Menschen noch Anderwesen allzu lange in ihrer Nähe ertragen zu müssen, doch im Gegensatz

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