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Grim

Grim

Titel: Grim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Schwartz
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ihre Gedanken. Wir dürfen nicht zu lange hierbleiben.
    Eine Bewegung in ihrem Augenwinkel ließ Mia den Kopf wenden. In der Zimmerecke stand ein klappriger Holztisch mit einem Schemel – und darauf saß eine Gestalt mit geschlossenen Augen. Es war ein alter Mann, das Gesicht grau und eingefallen, die knochigen Hände im Schoß gefaltet. Mia konnte nicht mehr sagen, ob er die ganze Zeit über dort gesessen hatte, der Duft an seinen Fingern kam ihr bekannt vor, er roch nach Terpentin, doch schon wurde sein Haar weich und golden, sein Gesicht veränderte sich zu dem einer Frau, eines Kindes, eines jungen Mannes. Sie sah das blaue Tuch, das seine Schultern bedeckte, sie musste an das Gesicht ihrer Mutter denken, die eine Tischdecke von derselben Farbe besaß, und sofort veränderte sich das Antlitz ihres Gegenübers und wurde schmal und zart. Mia hörte, wie Radvina die Luft einsog, und als sich das Haar des Fremden in der Stirn zu kräuseln begann und seine Lippen sich zu einem sanften Lächeln verzogen, da begriff sie, dass sie ihn selbst erschufen – sie erdachten ihn in jedem Augenblick neu mit Bruchstücken ihrer Erinnerungen. Sie verstand, dass das Haus zur Letzten Laterne ein Ort ohne Welt war, und noch ehe sich hellblaue, leicht schimmernde Haut über das Gesicht des Fremden zog und seine Taille sich in die einer Frau verwandelte, wusste sie, dass sie den Hermaphroditen vor sich hatte – den Wächter der Schwelle zum unsichtbaren Prag.
    Kaum hatte sie das gedacht, schien seine Verwandlung abgeschlossen. Das Haar fiel ihm in sanften Wellen in den Nacken, seine Züge waren die eines jungen Mannes geblieben, während die weiblichen Formen seines Oberkörpers in seidene Tücher gehüllt waren. Langsam öffnete er die Augen, und obgleich sie zwei silbern leuchtende Spiegel waren, fürchtete Mia sich nicht. Der Silberschein glitt über ihr Gesicht, sie spürte, dass der Hermaphrodit gleichzeitig auch die anderen ansah, dass er sie prüfte. Schemenhaft bemerkte Mia, dass die drei Hartide den Blick senkten.
    Der Nebel kündete von Flammen , sagte der Hermaphrodit mit einer Stimme, die weich und hart zugleich war und von der Mia nicht sagen konnte, ob sie trotz des geschlossenen Mundes im Zimmer widerklang oder nur ihre Gedanken durchzog. Er kündete von Sehnsucht und Tod und Verkommenheit. Er ließ euch herein zu mir. Wer seid ihr?
    Lyskian deutete eine Verbeugung an, die der Hermaphrodit ohne Regung entgegennahm. Er betrachtete noch immer Mia, als würde er durch sie hindurch die anderen sehen können oder als bräuchte er ihre Augen, um sie zu erkennen.
    Lyskian stellte sie kurz vor. »Verus Crendilas Dhor hat die Welt der Menschen überfallen«, sagte er dann. »Und nun steht der Anderwelt ein Krieg mit den Dämonen bevor. Um ihn zu verhindern, müssen wir ins geheime Prag gelangen, denn nur dort … «
    … nur dort könnt ihr finden, was ihr sucht , beendete der Hermaphrodit seinen Satz. Mia meinte, ein Lachen zwischen seinen Worten widerklingen zu hören, doch sie wusste nicht, ob es spöttisch oder nur amüsiert klang. Dessen bin ich mir bewusst. Doch ich fragte euch, wer ihr seid, und ich erhielt keine Antwort. Ich sehe euch an. Ich sehe Licht, ich sehe Dunkelheit und alle Schattierungen dazwischen. Ihr seid hierhergekommen, doch vielleicht seid ihr nur Flüchtigkeiten auf weißem Papier. Woher wisst ihr, dass ihr mehr seid als die Figuren in einer Geschichte? Wisst ihr es? Oder wünscht ihr es euch? Und was ist das – ein Wunsch?
    Er schien keine Antwort zu erwarten, aber seine Worte sanken wie glühende Steine in Mias Inneres und kurz schien es ihr, dass sie jeden Gedanken, jedes Ziel mit sich hinabreißen würden und dass sie sich nicht rühren können würde, bis sie eine Antwort gefunden hatte auf diese Fragen.
    Ein Wunsch ist das Leben , sagte jemand, und Mia erschrak, als sie ihre eigene Stimme erkannte. Sie wusste nicht, woher diese Worte gekommen waren, vielleicht von der Farbe des Tellers auf der Fensterbank oder dem Duft des Terpentins, der die Luft durchzog, vielleicht auch von dem Atem des Wolfs auf der Leinwand, den sie nicht ansehen konnte, ohne zu fühlen, dass sie etwas unwiederbringlich verloren hatte in diesem Haus. Sie wandte sich nicht ab, als sich das Silberlicht aus den Augen des Hermaphroditen zurückzog und nichts als reinstes Weiß zurückließ. Ein Nichts war es, das nun in seinem Blick stand, und Mia spürte, wie es den Raum um ihn herum auslöschte, wie es sie selbst zu Asche

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