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Grim

Grim

Titel: Grim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Schwartz
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Schatten, doch sie riss den Blick von dem Schemen fort und floh in ein Bild ihres einstigen Kinderzimmers. Sie spürte den weichen Stoff ihres Teddys unter ihren Fingern, und sie lachte, als Jakob vor ihr Grimassen schnitt. Sie lief mit anderen Kindern über regennassen Waldboden und fühlte sich leicht und frei. Sie rannte, so schnell sie konnte, doch sie war nicht schnell genug. Plötzlich zog ein Duft in ihre Nase und sie hörte Musik – Jahrmarktsmusik. Der Wald zerbrach, sie fand sich zwischen Spielbuden wieder, der Geruch von gebrannten Mandeln hing in der Luft, und dort, nicht weit von ihr entfernt an der Loskasse, stand Lucas. Er wandte sich zu ihr um und lachte. Seine Augen spiegelten keine Erschöpfung und keine Traurigkeit, und Mia lief auf ihn zu, sie lief tatsächlich, so übermächtig wurde der Drang, ihren Vater zu umarmen. Sie fühlte seine rauen Hände sorgenvoll an ihren Wangen, diese Hände, die immer voll mit Farbe gewesen waren, sie sah sein Gesicht mit den Lachfalten um den Mund, sie hörte die Geschichten, die er ihr erzählt hatte, und sah die Wesen, die seinen Worten entsprungen waren und die ihre Kindheit reich gemacht hatten und bunt. Sie verließ diese Erinnerung, wandte sich um in der Dunkelheit und sah das flackernde Bild aus tausend Farben, das sich brennend und unheilvoll durch die Schatten schob. Rasch flog sie durch die verblassenden Erinnerungen, die wie Funken aufglommen und dann erloschen: Lucas auf einer Suche, deren Ende er vorausahnte und verschwieg, Lucas einsam und grau während einer überlaufenen Ausstellung seiner Bilder, Lucas, bejubelt und unerkannt, Lucas, wie er weinte, zusammengesunken am Küchentisch, als er glaubte, niemand würde es merken, und mit jeder Erinnerung krampfte sich Mias Magen stärker zusammen, bis sie ohne einen Atemzug in das flammende Bild eintauchte.
    Sie sank in ihr Innerstes, die Dunkelheit schloss sich um ihr Herz, dass sie meinte, es müsste zerbrechen, und sie verlor fast den Verstand darüber, dass es nicht geschah. Sie stand in Lucas’ Atelier, die Staffeleien um sie herum waren riesig, sie nahm den vertrauten Duft von Terpentin und Ölfarben wahr und überdeutlich den leicht metallischen Geruch, der sich wie Gift durch den Raum zog. Sie wusste, dass sie sieben Jahre alt sein musste, und als sie auf die zusammengebrochene Gestalt dort unter dem Fenster zuging, konnte sie nicht atmen. Sie blieb dicht vor der Lache aus Blut stehen, die über die Dielen gekrochen war. Dennoch richtete sie den Blick in die Schatten, ganz genau wie damals.
    Sie meinte, die Dunkelheit reißen zu hören, die sich über dem Körper ihres Vaters spannte, als wäre sie ein schützendes Tuch, und sie ertrug die ersten Bilder wie unter Blitzlichtern. Die unnatürlich verdrehte Körperhaltung. Die Waffe, die noch immer in seiner rechten Hand war. Die blau angelaufenen Fingerspitzen. Der Schädel, der seltsam flach auf dem Boden lag. All das Blut. Sie schwankte, doch ihr Blick fixierte eine Narbe unterhalb des Schlüsselbeins und hielt sich daran fest. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, wie er zu ihr gekommen war, sie hörte wieder seine Stimme, ohne den Sinn seiner Worte zu begreifen. Diese Narbe war ein Schutz, sie war eine Warnung und der Aufruf, jetzt fortzugehen, sich abzuwenden, ihren Blick nicht höhergleiten zu lassen. Aber Mia achtete nicht darauf. Gewaltsam hob sie den Kopf und schaute wie damals in das tote Gesicht ihres Vaters.
    Seine Augen waren gebrochen. Nie hatte sie verstanden, was das bedeutete, als er dieses Bild in Geschichten verwendet hatte, aber jetzt, da seine Augen blind auf seine Bilder starrten, wusste sie es. Die Wunde an seinem Hinterkopf sah sie nicht, bemerkte nur sein blutiges Haar und das erstarrte Lächeln auf seinen Lippen, das sein Gesicht zu einer Fratze entstellte. Nichts war friedlich an diesem Bild, und als Mias Körper sie zum Atemholen zwang, konnte sie nur mit Mühe die Übelkeit zurückdrängen. Verzweiflung stieg in ihr auf, sie spürte, dass sich etwas in ihr verfestigte, das immer schon da gewesen war, aber das erst nun, da sie ihren Vater in seinem eigenen Blut fand, die Klauen in ihr Fleisch grub. Sie gab keinen Ton von sich, sie weinte auch nicht. Es würde lange dauern, bis sie das würde tun können, das wusste sie. Stattdessen stand sie einfach da, und wie damals verwandelten sich die Bilder um sie herum in Schatten, wurden zu Spukgestalten, die sie mit eisigen Flügeln berührten, und sie wartete auf die Lähmung,

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