Grim
die sie damals umfangen hatte, den Kokon, der sie in ihrer Trauer einschließen würde für den Rest ihres Lebens, der sie fangen würde in diesem starren Blick ihres toten Vaters.
Doch nichts dergleichen geschah.
Beinahe erschrocken wandte Mia den Kopf in die Schatten, doch sie fand keine Schreckensbilder mehr darin wie damals, als sie klein gewesen war. Alles, was sie sah, war ihr Gesicht – Skizzen ihrer Augen, ihrer Nase, Umrisse ihres Kinns, die Lucas auf zahlreichen Staffeleien verteilt hatte, Vorarbeiten zu jenem Porträt, das jetzt weit unterhalb von Paris in Ghrogonia stand und von Vraternius bewahrt wurde wie ein Schatz. Sie schaute sich selbst ins Gesicht, doch das Mädchen auf den Bildern sah sie nicht an – es betrachtete Lucas, der am Boden vor ihr lag, zusammengesunken und leblos, und er … er erwiderte diesen Blick. Schmerzhaft zog Mias Herz sich zusammen. Sein letzter Blick in diese Welt hatte ihrem unfertigen, skizzenhaften Gesicht gegolten, wohl wissend, dass er es niemals mehr in einem anderen Zustand erleben würde. Er starrte nicht ins Leere, nicht in die Dämmerung seines Ateliers. Er sah sie an.
FlackerndbrandetendieSchattenumsieherumauf.SiewurdenzuUngeheuernwiedamals,dochMiaspürtenochdenAtemdesDrachenausihremTraumundweigertesich,vordemSchreckendavonzulaufen,dervonihrBesitzergreifenwollte.StattdessengingsienebenLucasindieKnie,undzumerstenMal,seitsiediesesBildtiefinsichverschlossenhatte,erkanntesienichtsSchrecklichesmehrinseinemGesicht.SiesahihnindenWochenvorseinemTod,zusammengesunkenhinterdemBaumimForêtdelaLicorne,wachendnebenihrerschlafendenMutter,reglosinmittenseinergefeiertenBilder,siesahihnnachtsanJakobsBettstehen,dannanihrem,undschließlichvorihremPorträt,dasGesichtruhig,dieAugenvonseltsamerKlarheitgefärbt.ErführtedenPinselbeinahezärtlich,undnun,daMiaseinemBlickfolgteunddasBildansah,dawurdeihrzumerstenMaldieÄhnlichkeitbewusstzuihremSelbstbildnis Noir .DunkleHaareumrahmteneinschmalesKindergesicht,eswareinMädchen,vonvielleichtsechsodersiebenJahren.EinwenigabweisendschauteesvonderLeinwandindenRaum,undetwaslaginseinenAugen … Miarührtesichnicht.SiehattekeinWortfürdas,wassiedarinerkannte,abersiewusste,dassesauchheutenochinihrenBlicktrat,wennsiedenZauberinderWeltwahrnahm,dasMysterium,demsiedurchdieAnderweltnähergekommenwaralsjezuvor.DieserAusdruckhatteauchindenAugenihresVatersgelegen,unddieLeutehattenfastsoetwaswieAngstvorihmgehabt – grundlosundinstinktiv.RuhigbetrachteteMiasichselbst,alssiesiebenJahrealtgewesenwar.ImmerhattediesesBildsietrauriggemacht,dochnunverwandelteessichwiealldieanderenBilderihresVatersinwarmeSteine,dielangsaminihrInneressanken.NochimmerstecktediesesKindinihr – undsiehattenochimmerdieAugenihresVaters.
Sie erschrak nicht, als sie sich umwandte und sich in der Küche ihrer alten Wohnung wiederfand. Lucas saß am Tisch, es war jener Abend, an dem sie ihn weinen gesehen hatte und heimlich zurück in ihr Zimmer geschlichen war. Doch dieses Mal wandte sie sich nicht ab. Sie trat auf ihn zu, fühlte, dass auch sie weinte, und als er sie anschaute, da gab es keinen Unterschied mehr zwischen ihrer Verzweiflung und der seinen. Er streckte die Hand nach ihr aus, seine Finger waren rau und warm, und sie sah sein Bild lodern wie eine flatternde Leinwand. Er wurde zu der Kreatur, die sie am Rand der Totenwelt gesehen hatte, schemenhaft sah sie ihn durch Wüsten streifen und durch Meere, sie spürte das Feuer, das er in sich trug und das sie so gut kannte, und dann, wie es leise erlosch. Das Flackern verschwand, sie kniete vor ihm in der schäbigen Küche, und doch flog ihr Lächeln über tausend Abgründe zu ihm hinüber. Er verstand sie. Er war wie sie. Und in dieser Gemeinschaft verlor sich jede Kälte für einen kostbaren Augenblick. Er hatte ihr ein Geschenk gemacht und sie trug es mit Stolz. Er erwiderte ihr Lächeln – und mit dieser Regung zerbrach die Erinnerung.
Mia fand sich zu Dumas Füßen wieder. Er sah auf sie herab, sanft strich sein Blick über ihre Haut und ließ sie Atem holen. Sämtliche Gegenstände um ihn herum hatten sich in Schemen aus silbernem Staub verwandelt, aus flammenden Augen schauten die Pferde des Karussells zu ihnen herüber. Mia schwankte, als sie auf die Beine kam, doch die Erschöpfung, die ihre Glieder durchdrang, war von einer tiefen, unerschütterlichen Ruhe, die sie noch nie so stark empfunden hatte.
Als sie die Schwere in ihrer Hand bemerkte, öffnete sie die Faust und fand darin die Patrone aus der Waffe ihres Vaters.
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