Grim
ihn an, und für einen Moment wollte sie diesem Gedanken folgen, ganz gleich, wohin er sie führen mochte. Doch sie tat es nicht. Denn hier, in diesem Feld aus Mohn, umgeben von samtener Dunkelheit, fühlte sie einen Schmerz und eine Sehnsucht, der keine Vollkommenheit, keine Ewigkeit und kein Tanz am Abgrund jemals Antwort geben konnte. Eine Stimme war es, die sie rief, eine Stimme, die Gebirge zum Bersten bringen konnte, sie sah ein Gesicht vor sich, ein Gesicht mit einer Narbe quer über dem rechten Auge, auf dem ein kindlicher Trotz lag, und ein Name umfing ihre Gedanken, dessen Klang sie überall erreichen konnte, ganz gleich, wie weit sie sich von ihm entfernte. Mochte der Weg, den er ihr bot, von Unzulänglichkeit geprägt sein, mochte er Einsamkeit bedeuten und Unruhe und Verzweiflung. Niemals würde sie sich anders entscheiden als für ihn. Mochte sie das Leben verabscheuen, davor fliehen und es allzu oft nur unter Schmerzen ertragen – sie würde es wählen aus einem einzigen Grund: weil er dort auf sie wartete.
Grim , flüsterte sie.
Der Schmerz kam so plötzlich, dass Mia zusammenfuhr. Es war ihr Herz, das wieder schlug, und sie hörte das Grollen, das in glühender Hitze ihre Brust erfüllte, die Dunkelheit um sie herum zerriss und die Sterne an den Himmel schickte, der über ihr lag, die Sterne – und den Mond. Sie sah die Schatten in Lyskians Augen, doch er hielt sie nicht fest. Er ließ sie gehen, ließ sie fliegen, und er sandte ein Bild in ihre Gedanken, das sie selbst zeigte, zusammengesunken an ihrem Schreibtisch im Atelier. Sie schlief, friedlich wie ein Kind, und Lyskian stand in der Tür und betrachtete sie. Lautlos trat er auf sie zu, sie sah, wie er die Hand ausstreckte, um ihr das Haar aus der Stirn zu streichen, und kurz glaubte sie, seine Finger auf ihrer Haut zu spüren, kühl und zärtlich wie ein Windhauch in düsterer Nacht. Doch er hielt inne, er berührte sie nicht, schaute sie nur an, als wäre sie eines der Gemälde, das unter seinen Händen zerbrechen würde. Das Bild zerfiel, doch als Mia die Augen öffnete und sich im Saal der Burg in Lyskians Armen wiederfand, sah sie noch immer diesen Ausdruck auf seinem Gesicht: Ein samtener Schimmer war es, der um seine Lippen spielte, ein Glanz, der ihn lächeln ließ, und erstmals, seit sie ihn kannte, fand sie etwas wie Frieden in seinen Augen.
Ein heftiger Knall zerriss die Stille um sie herum. Schwankend kam sie auf die Beine. Die Flüsterer hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und schrien so markerschütternd, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. Sie sah zur Maske des Bhaal hinüber und stellte fest, dass die Zeit beinahe abgelaufen war. Gleich darauf brach gleißendes Licht in den Raum. Schnell lief sie zum Fenster und erstarrte. Der Himmel glomm in goldenem Licht, und unzählige Fratzen drückten sich gegen das Firmament, es waren die Dämonen Braskatons, die sich gegen die dünne Haut der Wirklichkeit drängten.
Mia fuhr herum und lief auf die Maske zu, doch Lyskian hielt sie zurück. »Was hast du vor?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Du weißt, dass ich das Ritual nicht brechen kann«, sagte sie. »Ich muss die Menschen aufhalten – auf anderem Weg!«
Sie griff nach der Maske, aber er schüttelte den Kopf. »Die Welt der Träume ist nicht für dich geschaffen«, sagte er eindringlich, doch Mia lächelte kaum merklich.
»Diese hier ist es auch nicht«, erwiderte sie leise.
Lyskian sah sie an, die Schatten tanzten in seinem Blick, als er den Arm sinken ließ. Mia beugte sich vor, für einen Moment streiften ihre Lippen seine Wange. Dann setzte sie sich die Maske auf, und noch ehe er etwas erwidern konnte, verschwand sie in der Welt der Träume.
Kapitel 53
Atemlos kam Grim auf dem Dach des Veitsdoms auf die Beine. Der Schatten des Drachen fiel auf sein Gesicht, dasGrollen der Schlacht brach wie ein Gewitter zu ihm herauf. Die Ghrogonier hatten zahlreiche Menschen von den Dämonen befreit und vor dem Burgareal unter Schutzkuppeln in Sicherheit gebracht, doch die Kinder des Zorns schlugen mit aller Kraft zurück und verwandelten den Kampf in einen Tanz aus wogenden Schatten. Grim hörte, dass Verus weit unten auf den gebrochenen Bodenplatten den Bannzauber von seinem Körper riss, doch er wandte sich nicht zu ihm um. Regungslos starrte er in den goldenen Himmel, der sich flackernd über der Stadt spannte. Er schien nicht mehr zu sein als eine dünne Haut, überdeutlich zeichneten sich die Leiber der
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