Grimes, Martha - Inspektor Jury 17 - Die Trauer trägt Schwarz
Novemberabend dunkel geworden war.
Wiggins besah sich das letzte Dokument, das er auf seinem Stapel hatte, und legte es beiseite. Das darunter liegende nahm er ebenfalls weg. Zu früh. Die Dunkelheit war etwa um fünf Uhr eingebrochen.
Sie sahen sich die Dokumente im Standesamt von Somerset House durch. Davon gab es offenbar tonnenweise, wenn man die Kisten über Kisten auf einem Regal nach dem anderen betrachtete. Der Bedienstete, den sie ausfindig gemacht und hierher geschleppt hatten, damit er ihnen aufsperrte, war nicht sonderlich erfreut gewesen.
»Schließlich ist heute Weihnachten.«
»Ja, Sir«, sagte Wiggins zu Jury. »Ich könnte aber trotzdem etwas heißen -« Er hob seinen Pappbecher mit dem kalt gewordenen Tee hoch.
Jury nickte. »Na, dann los.«
Wiggins ging zu dem Kiosk, das direkt vor Somerset House stand und dessen Besitzer selbst am Weihnachtsmorgen mit einer großen Auswahl an Speisen und Getränken aufwartete.
»Manche«, hatte er gesagt, als Wiggins sein Erstaunen über dieses Angebot geäußert hatte, »müssen eben immer noch ranklotzen, na, ihr Leute zum Beispiel.«
»Ranklotzen? Bei dem sind in seiner Teeküche wohl zu viele amerikanische Wirtschaftsbosse herumgestanden«, sagte Jury und legte wieder eine Urkunde auf den Stapel vor ihm. Drei Dutzend mussten es hier schon sein. Einige sortierte er aus, weil sie für das Feuerwerk zu früh am Tag geboren waren. Erstaunlich, wie viele Kinder anscheinend andauernd geboren wurden. Dabei zog er nur die Babys in Betracht, die nach fünf Uhr nachmittags geboren worden waren. Wirklich überwältigend.
»Hier ist etwas, Sir. Ein Mädchen, Olivia -« Wiggins hielt überrascht inne.
»Was?«
»Der Name des Babys ist hier mit Olivia Croft angegeben.«
Jury riss Wiggins das Papier aus der Hand. »Ein Volltreffer! Croft.«
Er las weiter: »Geboren am 5. November 1939 um acht Uhr abends. In Chewley Hill. Das ist in der Nähe von Princes Risborough in den Chilterns. Rufen Sie gleich dort an! Sagen Sie, ich bin schon unterwegs. Sagen Sie, um wen es geht. Und wenn die sagen, >Heute ist aber doch Weihnachten, dann tun Sie einfach so, als wäre Ihnen das neu.«
»Heute ist aber Weihnachten, Sir!«
Jury fuhr in seine Mantelärmel. »Was Sie nicht sagen! Also, los, Wiggins, und dann hauen Sie ab und fahren in Ihr verdammtes Manchester.« Schon aus der Tür, kam Jury noch einmal zurück.
»Übrigens danke, Wiggins. Frohe Weihnachten.«
»Für Sie auch, Sir.«
Chewley Hill, sowohl Haus wie gleichnamiger Hügel, lag am Rande der Chilterns im Winterlicht, das der Umgebung eine verträumte Stimmung verlieh. Eingetaucht in dieses Licht waren die umliegenden Felder und der Glockenturm der Kirche unten im Ort zu erkennen, und es war, als ob nichts allzu Helles, allzu Harsches die heitere - und, nach Jurys Eindruck, hart erarbeitete -Atmosphäre des Hauses stören dürfte.
Er stand in einer Eingangshalle, um die eine Galerie verlief, sah zu der anmutig geschwungenen Treppe auf beiden Seiten hinauf und dachte dabei, dass sich eine junge Frau, die die Mittel besaß, hierher zu kommen, glücklich schätzen konnte -obwohl sie das natürlich nicht täte. Zwei hochschwangere junge Damen (eigentlich Mädchen) standen mit zusammengesteckten Köpfen neben der Treppe und schauten kichernd zu ihm hinüber. Er lächelte. Die hatten doch bis auf Weiteres genug geflirtet, oder nicht?
Dass die Frau, die 1939 dieses geschmackvoll eingerichtete Haus geleitet hatte, diesem immer noch vorstand, fand Jury mehr als erstaunlich. Das fand Miss Judy Heron ebenfalls und ergötzte sich an seinem Erstaunen. »Fünfundfünfzig Jahre, Superintendent. Damals war ich vierundzwanzig, jetzt bin ich neunundsiebzig. Ich habe großes Glück, und - wie ich meine -Chewley auch, dass es diese Kontinuität gibt. Nein, man kann schon sagen, einen häufigen Wechsel an Hilfskräften gibt es hier nicht.« Sie lächelte.
Jury ebenfalls. »Ich verstehe auch warum, Miss Heron.« Heron - er fand, dass ihr Name zu ihr passte, denn sie kam ihm wie ein großer, schmaler, anmutig dahin schreitender Reiher vor, der sich langsam und zierlich bewegte. Ihre gemächlichen Bewegungen waren kein Zeichen fortgeschrittenen Alters, sondern eher ihres Temperaments. Er konnte sich vorstellen, dass sie sich auch mit vierundzwanzig auf die gleiche Art, wie unter Wasser, bewegt hatte. Sie hatte so etwas Ruhiges, Beruhigendes an sich. Wie dieser Raum, mit dem Sammelsurium an behaglichen Sesseln und antiker Sitzgruppe,
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