Grimes, Martha - Inspektor Jury 20 - Inspektor Jury kommt auf den Hund NEU
um Piccadilly Circus in einem Wagen zu umrunden, konnte man bis zu den Äußeren Hebriden marschieren.
Jury hatte schon immer ein gewisses Faible für Fortnum's gehabt, obwohl er nicht recht sagen konnte, warum. Es gehörte nicht zu den Geschäften, in denen er normalerweise seine Einkäufe erledigte, denn für das Gehalt eines Kriminalbeamten war es einfach zu teuer. Doch wurde dort auf die Dekoration der Schaufenster mehr Fantasie verwandt, wurden Konserven, Früchte und Süßigkeiten kunstvoller in Szene gesetzt als in einem Theater im West End. Man musste sich nur diese Birnen und Pflaumen in der sündhaft teuren Obst- und Gemüseabteilung ansehen! Und dann auf der anderen Seite der Etage Fisch und Geflügel - der Räucherlachs so hauchdünn geschnitten, dass er wie der Rock eines rosafarbenen Seidenabendkleids in Falten fiel, und dazwischen steckten durchsichtige Gurkenscheibchen. Und die Patisserietheken: eine wahre Hölle für Leute, die Diät hielten! Dort konnte man kleine, mit hauchzartem Erdbeerschaum gefüllte Meringue-Schwäne oder eine teuflisch leckere, mit Kakao bestäubte und mit Rüschchen von noch mehr Schokolade verzierte Schokoladen-Mousse beäugen, bis einem der Speichel troff. Das alles reichte in seiner Üppigkeit für ein ganzes Menschenleben an Desserts aus. Da war ein Rumkuchen, von dem der Saft auf die Platte sickerte, ein Kokoskuchen, der mit dünn geraspelter weißer Schokolade dekoriert war, und eine Zitronentorte, die von innen heraus zu leuchten schien.
Noch nie im Leben hatte er Speisen gesehen, die einen derart in Verzückung geraten ließen. Jeden einzelnen Geschmack in diesen Glasvitrinen konnte er kosten. Bei einer zierlichen Verkäuferin erstand Jury einen der Meringue-Schwäne und einen etwas prosaischeren, kremgefüllten Donut. Während er quer durch Fortnum's hindurch wieder auf die Straße ging, hegte er in Gedanken Zweifel, ob es in Wien oder Paris oder gar im Himmel eine bessere Patisserieabteilung geben konnte. Er blieb stehen, um seinen cremegefüllten Donut zu verspeisen und in Fortnum's Schaufenster zu blicken, wo die Mannequins wie elektrifiziert wirkten, entweder weil er sie betrachtete oder wegen ihrer attraktiven Garderobe. Die Designerkleider, in denen sie steckten, entschieden die Frage zu ihren Gunsten.
Anschließend ging er zu Hatchards, einer Buchhandlung, die geballtes Wissen und Gelehrsamkeit verströmte wie zuvor der Rumkuchen das Rumaroma. Ganz gleich, wie viele Kunden sich dort aufhielten, in dieser Buchhandlung herrschte immer eine Art andächtige Stille, als wäre die Luft mit Watte oder Wolken gepolstert. Er hielt diese Wolkenfantasie im Kopf fest, während er die Wendeltreppe hinunterstieg in die Kinderbuchabteilung. Dort hielt er nach den Büchern von Maurice Sendak Ausschau und nahm Als Papa fort war aus dem Regal sowie den Titel, auf den er es besonders abgesehen hatte: Really Rosie. Er blätterte es durch... las es gewissermaßen im Stehen durch. Dann klemmte er sich Rosie unter den Arm, um noch einmal die Stelle mit dem Eisbaby in Als Papa fort war zu lesen.
Gab es jemanden, der Kinder besser verstand als Maurice Sendak? Einen Psychologen, Lehrer, Sozialarbeiter? Er hatte ehrliche Zweifel.
Chelsea war von der Hester Street geistig etwa genauso weit entfernt wie geographisch. Statt Schäbigkeit und Freudlosigkeit begegnete einem hier Eloquenz, der Lobgesang auf die Wertvorstellungen der gehobenen Mittelschicht. Es herrschte auch ein gewisser Snobismus, allerdings glaubte Jury kaum, dass sich dieser auf Rosie oder Pansy sonderlich auswirken würde. Die beiden hatten schon so viel Scheußliches erlebt, dass sie sich von der Dünkelhaftigkeit dieser Gesellschaft nicht würden beeindrucken lassen.
An der Adresse, die Johnny ihm gegeben hatte, befand sich eines dieser typischen Remisenhäuschen, kunstvoll arrangierte kleine Domizile, wie sie Ausländern so gefielen, vor dem er nun in Betrachtung versunken stehen blieb. Ein ehemaliges Stallgebäude -eigentlich komisch, dass es heute als so prestigeträchtig galt, in einem Stall zu wohnen, der einst ein Pferd beherbergt hatte. Aber wunderbar, dass Rosie und Pansy nun in so einem Puppenhaus wohnten: mit Efeu, Kletterrosen und Töpfen voller Zinnien in leuchtenden Farben. Sämtliche Türen waren in Pastelltönen gestrichen.
Die Schule, hatte Johnny gesagt, sei ganz in der Nähe, und nach knapp fünf Minuten hatte er sie erreicht. Ein alter Backsteinbau mit einer breiten Marmortreppe, an deren Fuße
Weitere Kostenlose Bücher