Grimes, Martha - Mordserfolg
’n Kerl – macht sich über kleine Kinder her!« Er machte eine verächtliche Handbewegung.
Eine Weile saßen sie schweigend da und ließen es sich durch den Kopf gehen.
Karl fragte: »Hast du dein Buch fertig gelesen?«
»Ich? Nein. Du?«
»Nein.«
»Meinst du, wir sollten tauschen? Ich mein, ich lese die zweite Hälfte von deinem und du die zweite Hälfte von meinem, und dann erzählen wir uns gegenseitig, was drinsteht?«
Karl dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. »Und noch was: Wieso will dieser Giverney unseren Typ aus dem Weg geräumt haben?« Er nickte zu Ned hinüber. »Ich finde, das sollten wir wissen.«
»Schon, bloß dass Bobby Mackenzie und unser guter alter Clive da drüben – dass die’s offenbar auch nicht wissen.«
»Demnach ist der Einzige, der es weiß, Giverney selber«, sagte Karl.
»Meinst du, wir sollten mal zu ihm und uns ein bisschen unterhalten?«
»Nein, kommt gar nicht in Frage. Dann weiß er über uns Bescheid. Darauf können wir verzichten. Aber ich kann mir denken, dass unser guter alter Clive da drüben vielleicht was weiß, was wir nicht wissen. Wieso ist der eigentlich hier? Und nicht bloß der, wieso ist Neds Kumpel da drüben«– Karl deutete zu Saul hinüber, der etwas weiter entfernt stand, fast verdeckt von den unteren Ästen eines Baumes –»wieso spricht Mr. Aschgrauer-Kaschmirmantel ihn denn nicht an? Wundert mich ja sowieso, dass der noch keine Anstalten gemacht hat, mit uns zu reden, wo wir doch bei Swill’s alle zusammengehockt sind.«
»Okay, vielleicht versucht er’s ja, wenn wir wieder im Hotel sind und dort was trinken – hey, unser Knabe macht die Fliege!«
Sie sahen, wie Ned umkehrte und zu der Stelle zurückging, an der er den Park betreten hatte.
Ned blieb kurz stehen, weil er glaubte, die hellhaarige Frau, die dort drüben auf einer Bank saß, käme ihm irgendwie bekannt vor. Dann fiel ihm ein, an wen sie ihn erinnerte: an Nathalie. Wieso? Nathalie hatte doch dunkles Haar. Er schüttelte den Kopf.
Einen Augenblick hatte er den verrückten Eindruck gehabt, er hätte Saul gesehen, zumindest von hinten, wie er zwischen den Bäumen hindurch verschwand. Vermutlich hatte es bloß an dem Kaschmirmantel gelegen.
Ned erinnerte sich an Shadyside.
Es war das Viertel, in dem er gewohnt hatte. Hier musste es eigentlich weitere Orientierungspunkte geben, Orte, an denen er als Junge gewesen war und deren Namen, wenn er sie heute sah, in seinem Gedächtnis eine Schleuse öffnen und die Erinnerungen aus einem geistigen Reservoir strömen lassen würden.
Er wusste, wenn er lange genug Ausschau hielt, würde er ein Isaly’s finden, und da war auch schon eines in Shadyside, und ihm war, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen zwischen dem kleinen Schlittenfahrer und dem erwachsenem Schriftsteller. Wie die Zeit vergeht! Warum gab es nicht diese gelegentlichen Stoppstellen in dem vermeintlichen Kontinuum?
Ned betrachtete das verspiegelte Schaufenster, auf dem in weißer Farbe der Name geschrieben stand, dazu die kleinen Schneehäubchen, die zitternd von den Bäumen herunterfielen. Es schneite inzwischen nicht mehr. Ned stellte sich eine Eistüte vor, der man beim Wegschmelzen zusehen konnte.
Er wusste nicht, ob es dasselbe Isaly’s war, in das sein Vater ihn als kleinen Jungen immer mitgenommen hatte, oder das, in dem er später gearbeitet hatte. Er hatte in mehreren Eisdielen gearbeitet, meinte er. Doch sein Gedächtnis war furchtbar schlecht, und es war vermutlich nicht diese hier.
Er war froh, dass es außer ihm noch andere Kunden gab. Es gab ihm die Gewissheit, dass dieses Isaly’s nicht irgendeine Geistererscheinung war, die er heraufbeschworen hatte, weil er es so haben wollte – eine Eisdiele an einem verschneiten Nachmittag, die plötzlich Gestalt annahm.
Zwei Erwachsene studierten die Eisauswahl, vermutlich waren es die Eltern des kleinen Mädchens, das unter einem Gitter aus hellgoldenem, windzerzaustem Haar hervorlugte, während es sich am Bein des Mannes festhielt. Die Kleine tat, als wäre das Bein ein Baumstamm, um den sie herumspähen oder hinter dem sie sich verstecken konnte, falls ihr das, was sie sah, nicht behagte, und von wo aus sie jemanden, den sie sah, in ein Spiel einbeziehen konnte.
Ned hätte ein gekünsteltes Lächeln aufsetzen können, wie es Erwachsene gern für Kinder reservieren, tat es aber nicht. Sie reagierte auf ihn, indem sie das väterliche Hosenbein mit ihren kleinen Fingern umklammerte, die, dachte
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