Grimm - Roman
ist lecker.«
Immer noch musterte sie ihn wütend. Was bildete er sich ein? So mit ihr zu reden?
Sie wandte den Blick ab, schlürfte sauer am Cappuccino.
»Meine Mutter hat einen ähnlichen Kuchen gebacken. Aber das ist lange her. Weißt du, wie sie ihn genannt hat?«
»Zitronenkuchen?«
Er schüttelte den Kopf. »Eierschwer.«
Vesper schaffte es nicht, weiterhin sauer auszusehen. »Eierschwer?«
»Wegen der vielen Eier, die drin sind.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Doch.«
Sie musste lachen, obwohl sie es nicht wollte.
»Ha!«, rief er plötzlich, klatschte in die Hände und sprang auf. »Du lachst, wer hätte das gedacht?«
»Du bist verrückt«, sagte sie.
Er nickte eifrig, setzte sich neben sie auf die Bettkante. »Lachen hilft immer«, sagte er, und seine Stimme war nicht mehr lustig. »Wir dürfen das nicht verlernen, weißt du? Dafür ist das Leben zu ernst.«
Sie nickte wie ein Schulmädchen. Sagte: »Eierschwer.« Und lachte erneut.
Leander nippte an seinem Caffè Latte. »Der Tag hat gerade erst begonnen.«
»Und?«
»Du lachst bereits.«
»Ach ja?« Fast unbeschwert wischte sie eine weitere Träne fort.
Er biss in ein Croissant. »Ja«, stellte er fest. »Furchterregende Dinge sind viel weniger furchterregend, wenn man über sie lachen kann.« Versonnen blickte er zu Boden. »Weißt du was? Als mein Bruder verschwand, damals, weißt du, was ich getan habe?«
»Was?«
»Ich habe den Fernseher eingeschaltet. Kennst du Das Wirtshaus im Spessart ? Oh, ich mag diesen Film. Lieselotte Pulver ist umwerfend.« Schatten wanderten ihm über die Augen. »Ich habe mich köstlich amüsiert.« Er seufzte. »Meine Eltern hörten mein Lachen. Sie schalteten den Fernseher aus, und mein Vater schlug mich ins Gesicht. Er hat mich angeschrien. Ich hätte meinen Bruder im Stich gelassen, es sei meine Schuld, dass er fort sei. Er hat auf mich eingeschlagen, obwohl ich ihn angefleht habe, endlich damit aufzuhören.« Seine langen Finger fummelten nervös an dem Pappbecher herum. »Sie haben mir nie verziehen, dass ich nach so kurzer Zeit schon wieder lachen konnte.« Er kratzte sich am Kinn, schaute Vesper lange an. »Sie haben es einfach nicht verstanden. Sie haben es nicht verstehen wollen . Warum ich gelacht habe.« Leander lächelte nachdenklich, versunken in der Erinnerung. »Ich wäre verrückt geworden, hätte ich nicht gelacht.«
»Danke«, sagte Vesper.
Draußen hatte es erneut zu schneien begonnen.
»Und jetzt iss deinen Eierschwer auf«, sagte Leander. »Ich bin eine Ewigkeit gelaufen, um ihn zu holen.«
Im Radio lief Try Again von Keane.
Und an der Tür klopfte es.
Erschrocken hielten beide instinktiv den Atem an. Niemand wusste, dass sie an Bord der Cap San Diego waren. Wer also konnte das nur sein? Wer hatte herausgefunden, dass sie hier waren?
Es klopfte erneut.
Schnell.
Rhythmisch.
Eilig.
Vesper gestikulierte wild mit den Händen, schnitt einige Grimassen, blickte zum Fenster.
Nein, einen Fluchtweg gab es nicht. Zum einen war das Fenster viel zu klein, als dass man hätte hindurchschlüpfen können, zum anderen ging es unter dem Fenster mehr als zehn Meter in die Tiefe. Andererseits würde der Menschenwolf wohl kaum anklopfen, wenn er sie ausfindig gemacht hätte.
Leander jedenfalls zuckte die Achseln.
Ging zur Tür.
Lauschte.
Öffnete.
Das Erste, was Vesper sah, war die Silhouette eines Mannes, die sich vor dem Licht der Korridorlampen abhob. »Guten Morgen«, wünschte ihnen der Fremde in dem grauen Mantel mit den Silberknöpfen. Das schwarz-weiße Totenkopfäffchen hockte still auf seiner Schulter. »Edgar hier hat mich zu euch gebracht.« Das Äffchen kreischte leise und hob zur Begrüßung die winzige braune Pfote, die fast wie eine menschliche Hand aussah. Mit einem Satz hüpfte es auf die Kommode, von dort zum Bett und auf Vespers Schulter.
Vesper grüßte erschrocken und zugleich erfreut zurück und kraulte dem Tier den Hals. »Edgar?«
»Wie Edgar Rice Burroughs. Der Name gefällt ihm.«
Edgar, das Äffchen, ringelte den langen Schwanz um Vespers Schulter.
Leander sah überrascht aus. »Sie haben uns geholfen. Danke.«
»Gern geschehen.«
»Was ist mit den Wolfsschemen passiert?«
Der Fremde grinste. »Ich habe es überlebt. Die Wölfe sind jetzt erst mal fort.«
»Sehr geheimnisvoll«, sagte Leander.
»So bin ich«, erwiderte der Fremde.
»Der Rover steht …«
»Hab ihn gefunden.«
Vesper schaltete sich ein. »Wer sind Sie?«
»Ich bin der
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