Grimm - Roman
unten.«
Ida lächelte. »Du hast Greta eine Geschichte erzählt.«
»Du hast gelauscht?«
»Sie war sehr schön.« Sie stockte: »Traurig, aber auch schön.«
»Vielleicht hat Greta sie auch gehört.«
Ida biss sich fest auf die Lippen, war kurz davor, wieder zu weinen. »Ich habe solche Angst, Vesper. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist.«
»Wir werden es schaffen«, versprach sie und wusste nicht genau, was sie damit meinte. Irgendwie wusste sie nicht einmal, ob sie Ida Veidt und Greta jemals wiedersehen würde. Ja, sie hatte ein außerordentlich ungutes Gefühl bei dieser Sache.
»Du hast noch etwas vergessen«, sagte Ida plötzlich, als sie gerade schon die Tür hatte öffnen wollen.
Vesper sah sie fragend an. »Was meinst du?«
»Da ist etwas in deinen Augen.«
»Was ist es?«
»Sie sehen anders aus.« Ida musterte sie eindringlich.
»Was ist mit ihnen?«
Ida lächelte, wie sie es früher so oft getan hatte. »Da ist ein Glanz, der vorher nicht da war.«
»Oh«, brachte Vesper nur hervor.
»Du hast vergessen, es mir zu sagen.«
»Was?«
»Dass du dich verliebt hast.«
Sofort fühlte sie sich ertappt. »Ich habe mich nicht verliebt«, sagte sie schnell und stockte mitten im Satz. »Wir …« Sie fummelte mit den Händen an ihrem Schal herum. »Oh, Ida, ich …«
»Du bist durcheinander.«
Schnelles Nicken.
»Du bist es«, stellte Ida fest. »Völlig verknallt.«
»Nein, ich …«
»Vesper, gib es zu.«
Sie senkte den Blick. »Das alles passt doch gar nicht zusammen«, gab sie zu bedenken.
Ida trat auf sie zu und nahm sie in die Arme. Ganz fest drückte sie Vesper an sich.
»Das ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.«
Ida löste die Umarmung und sah ihr in die Augen. »Das ist es nie«, sagte sie. »Es passiert einfach, hörst du?! Wenn es passiert, dann passiert es. So ist das nun mal im Leben.«
Vesper nickte. »Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Dir würde schon was einfallen«, sagte Ida.
So standen sie vor der Wohnungstür, während irgendwo draußen in der Nacht erneut ein drängendes Hupen erklang. Sekunden später summte das Handy in Vespers Rucksack.
»Ich muss jetzt los.«
Ida biss sich auf die Lippe und nickte.
»Pass auf Greta auf«, sagte Vesper zum Abschied.
Ida umarmte sie ein letztes Mal. »Du weißt, dass ich die Kostüme allein nicht bis zur Premiere fertig habe.«
Fast hätte Vesper geheult, als sie das sagte. Meine Güte, die Premiere! Die hatte sie fast vergessen. Das Theater am Fleet , die Schule, die beiden Polizisten, die sie befragt und gebeten hatten, die Stadt nicht zu verlassen. Die Begräbnisse ihrer Eltern, die irgendwann stattfinden würden. Die Wohnung, die sie seit zwei Tagen nicht mehr betreten hatte. Alles, aber auch wirklich alles, hatte sie irgendwie hinter sich gelassen.
»Ich komme schon zurück«, versprach sie rasch. Dann drehte sie sich um, zog sich die Lederjacke über und lief schnell die Treppe hinunter und nach draußen in die Nacht hinaus, wo eine unbestimmte Zukunft auf sie wartete.
Der Range Rover wartete mit gesetztem Blinklicht und laufendem Motor auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf sie. Als sie aus dem Hauseingang trat, wehte ihr ein Wind ins Gesicht, der ebenso geheimnisvoll wie eisig war. Oben am Fenster von Idas Wohnung wurde ein Vorhang zurückgezogen, und ein Gesicht erschien, eine Hand hob sich zaghaft und winkte ihr zum Abschied zu.
Vesper erwiderte die Geste eilig, überquerte die Straße und gab sich Mühe, nicht zurückzublicken.
Sie wollte jetzt keine Wehmut, keine Tränen und keine Zweifel.
Drüben, auf der anderen Straßenseite, war Leander ausgestiegen, um ihr die Tür zu öffnen.
Man ist da zu Hause, wo die Menschen sind, die auf einen warten.
Ein wenig getröstet, lächelte sie so, dass keiner es merkte.
Wenn es passiert, dann passiert es.
Dann lief sie zu ihm.
»Es geht los«, verkündete er.
Vesper zwinkerte ihm zu, bedankte sich und kletterte nach hinten auf den Rücksitz.
»Du kannst es dir bequem machen«, meinte Leander und schlug die Tür zu.
Vesper sah eine gemütliche Decke und zwei Kissen.
Augenblicke später stieg Leander vorn ein. »Du kannst ein wenig schlafen, wenn du möchtest.«
Vesper legte ihren Rucksack auf den Boden. Die wenigen Habseligkeiten, die ihr geblieben waren, hier waren sie. Vorhin hatte sie noch darüber nachgedacht, einen kurzen Abstecher in ihre Wohnung zu machen, aber dann hatte sie sich dagegen entschieden. Wer wusste
Weitere Kostenlose Bücher