Grimm - Roman
sich selbst nicht ertragen kann, der wird es nicht schaffen.«
Vesper seufzte.
Wie ermutigend!
Sie schaute nach vorn.
Der Aufstieg war anstrengend. Andauernd ging es nur bergauf. Vesper hasste es, schon als Kind hatte sie das Wandern gehasst.
Selbst Leander war ruhig.
Nur die Stille der Winterwelt umgab sie wie ein Mantel aus Weiß und Eis.
So erreichten sie nach einer Stunde Fußweg den Platz, den die Hexe ihnen beschrieben hatte.
»Ist er das?«, fragte Vesper.
Ein riesiger Baum ragte am Rande einer Lichtung empor. Er war tot, und doch schien er ein lebendiges Wesen zu sein. Seine knorrige Rinde sah dick und rau und vernarbt aus, wie der geschundene Leib eines Lebewesens. Man konnte sogar denken, dass er eine Kreatur war, die zu beiden Seiten die dürren Flügel ausstreckte, um sich emporzuschwingen und davonzufliegen.
»Sieht aus wie ein toter Baum«, erkannte sogar Leander.
»Und der Spiegel?«
Vesper trug den Ring, Leander die Uhr, Andersen den Anhänger um den Hals.
Sie sahen den Spiegel, kaum dass sie danach gefragt hatten.
Er war groß wie eine Standuhr, oval und schlicht, und steckte in einem barocken Rahmen, ein wenig schwülstig. Er spiegelte, was er sah und was vor ihm lag; ganz so, wie es normale Spiegel zu tun pflegen.
»Was machen wir jetzt?«, wollte Vesper wissen. Sie sah sich selbst auf den Spiegel zukommen.
Leander sagte: »Die Hexe meinte, wir sollten mit ihm reden.«
»Klasse Idee.«
Sie stapften weiter durch den Schnee.
»Ich sehe bescheuert aus in diesen Klamotten«, bemerkte Vesper mürrisch.
Leander grinste nur.
Vesper hob die Hand. »Hallo, Spiegel«, sagte sie.
Nichts passierte.
»So funktioniert es also nicht.« Leander trat vor und berührte einfach die Glasfläche mit der bloßen Hand.
Der Spiegel zeigte ihm nichts anderes. Nur Leander Nachtsheim, der seine Handschuhe auszog und die Glasfläche berührte. Doch dann, flink wie ein Wiesel, bewegte sich Leanders Spiegelbild mit einem Mal anders als er selbst. Das Ding im Spiegel sah aus wie Leander, hatte nun aber Augen aus Spiegelglas, in denen sich wiederum der richtige Leander spiegelte. Je näher man das Spiegelwesen betrachtete, umso schwindliger konnte einem werden. Der Spiegel im Spiegel im Spiegel im Spiegel. Endlos, bis man den Verstand verloren hatte. Leander, Leander, Leander, immer weiter.
»Wer seid ihr?«, erdröhnte plötzlich eine Stimme wie Kristall aus dem Spiegel.
»Wanderer«, gab Leander zur Antwort. Er sprach mit einer tieferen Stimme als sonst, die vermutlich bedeutsam und ernsthaft klingen sollte.
Vesper sah ihn belustigt an. Selbst jetzt brachte er sie zum Lachen. Selbst hier.
»Wer bist du?«
Leander nannte seinen Namen.
»Du möchtest diesen Weg beschreiten?«
»Ja«, antwortete er mit fester Stimme. Vesper zugewandt, flüsterte er: »Wenn er jetzt nach meiner Lieblingsfarbe fragt, muss ich passen.«
Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Grinsen zu verbergen. Und das, obwohl sie sich abgrundtief vor dem Spiegelding fürchtete. Oh, Leander, dachte sie nur.
Der Spiegel, der nicht zum Scherzen aufgelegt war, fragte: »Ins Winterland jenseits von mir?«
Leander wurde ernst. »Ja.«
»Du bist ein Mensch«, stellte der Spiegel fest.
Leander hielt die Uhr in die Höhe. »Ich weiß, wohin ich gehe.«
Der Leander im Spiegel neigte, anders als der richtige Leander, den Kopf und betrachtete die Uhr. Der Effekt war irritierend. »So, du weißt also, wohin du dann gehst.« Das Spiegelbild lachte klirrend. »Also komm!«
»Wie?«
»Ich führe dich.«
Der Leander im Spiegel streckte plötzlich die Hände aus, und der Leander, der neben Vesper stand, tat das Gleiche. Er konnte gar nicht anders, als die Hände des Spiegelbildes zu ergreifen.
»Sieh dich selbst und verzage«, dröhnte der Spiegel.
Dann wurde Leander mit einem kräftigen Ruck nach vorn gezogen und verschwand in sich selbst. Zurück blieb ein Spiegelbild, das den Wald und Vesper darin zeigte. Andersen stand neben ihr, auch im Spiegel.
»Er ist fort«, stammelte Vesper. Es war so schnell gegangen, dass sie es kaum wahrgenommen hatte.
»Wer ist der Nächste?«
Vesper zuckte zusammen. Es war ihr Spiegelbild, das die Frage stellte.
»Ich?« Die Antwort kam nur zögerlich.
Der Spiegel stellte ihr die gleichen Fragen, und komischerweise musste sie fortwährend an ihre Lieblingsfarbe denken.
Wie Rosen, so rot.
Sie trat vor, streckte die Hände aus.
Rosen …
»Sieh dich selbst und verzage«, dröhnte der Spiegel
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