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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Ziel?«
    Die Hexe schüttelte den Kopf. »Die Schneekönigin ist von blindem Hass auf den Erlkönig zerfressen. Sie hasst ihn, so wie die Mythen die Menschen hassen. Sie wird sich dem Erlkönig entgegenstellen, wenn man sie in die
Freiheit entlässt. Sie wird ihn töten, sie allein hat die Macht dazu. Und wenn das geschieht, dann sind die Mythen ohne Führung.«
    »Was ist mit dem Spielmann?«
    »Pah! Der wundersame Spielmann. Er ist nur ein Handlanger, kaum mehr. Ein Mensch, den der Erlkönig verführt hat. Er ist das Bindeglied zu den Menschen, er befehligt die Wölfe. Mit seiner Hilfe konnten die ersten von ihnen überhaupt erst wieder an Macht gewinnen.«
    So ergab also alles einen Sinn.
    Und der Plan?
    »Also müssen wir mit unseren Schlüsseln die Schneekönigin befreien.« Es war Andersen, der es aussprach. »Ist es das, was Sie meinen?«
    »Ja.«
    »Und wie machen wir das?«
    Theodora Zobels Augen funkelten. »Das ist der schwierigste Teil der Geschichte. Ihr müsst zu ihr gehen.«
    »Zur Schneekönigin?«
    »Zu wem wohl sonst?«
    »Wo ist sie denn?«
    »Noch immer da, wo sie einst gelebt hat. Karlstein, so heißt ihr Zuhause. Burg Karlstein. Sie befindet sich gleich dort drüben, hinter dem Tal, nahe der Bergspitze, die man jetzt nicht zu sehen vermag.«
    »Auf dem Brocken?«
    Sie lachte. »Der Brocken ist nur etwas, was in dieser Welt ist. Ihr aber müsst ins Land der Schneekönigin.«
    Alle drei sahen sie fragend an.

    »Ich kann euch den Weg beschreiben. Es gibt einen Spiegel, drüben in den Wäldern. Er befindet sich unter einem Baum, der schon gestorben ist. Redet mit ihm, und mit etwas Glück lässt er euch eintreten. Auf der anderen Seite aber ist alles anders.«
    »Wie im Märchenland?«
    »Grausamer, mein Kind, viel grausamer. Die Märchen, die du kennst, sind nur Lügen, die sich zwei Brüder ausgedacht haben, um die Mythen zu schwächen. Die Wirklichkeit hinter dem Spiegel aber kann verletzen und sogar töten.«
    Sie nickten.
    »Denkt daran«, betonte Theodora Zobel erneut, »was immer dort noch lebt, ist von tiefem Hass auf die Menschen durchdrungen.« Sie hob den Finger. »Das dürft ihr niemals vergessen, versprecht mir das.«
    »Was wird geschehen, wenn wir die Schneekönigin erweckt haben?«
    »Ihr müsst mit ihr reden. Erzählt ihr alles, was ihr wisst.«
    »Und dann wird sie uns helfen?«
    »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ihr Herz ist kalt, keine Ahnung, was sie tun wird.«
    So saßen sie alle um den Kamin herum, während sich draußen der Tag mit dichten Wolken dem Mittag zuneigte. Sie nippten an dem bitteren Tee. Vesper hoffte, dass sich ihr Aufbruch noch ein wenig hinauszögern würde. Sie wollte noch nicht nach draußen in die Kälte, den Schnee, die Ungewissheit der Wälder, die wie ein dumpfer
Laut waren, der alle anderen Töne zu überdauern vermochte.
    Schließlich nahm Andersen all seinen Mut zusammen und stellte die Frage, die ihm auf der Zunge brannte: »Wissen Sie, was mit Carlotta geschehen ist?«
    Theodora Zobels Gesicht wurde mit einem Mal so alt, dass ihr sogar das helle Blau in den Augen erlosch. »Carlotta Siebenbürger«, sprach sie den Namen aus wie wohligen Rauch, der einem übers Gesicht streift. »Ich lernte sie kennen, als sie mit ihren Eltern hierherkam. Ihre Mutter wollte ihr erklären, was es mit dem Brocken auf sich hat. Sie wollte ihr zeigen, dass es nicht nur ein hoher Berg im Harz ist. Nicht nur ein Berg, um den sich Legenden und Sagen ranken. Nein, sie wollte ihr die Wahrheit zeigen, doch Carlotta lief fort.« Sie starrte in die Flammen. »Sie lief in den Wald und verirrte sich. Zwei Tage irrte das Mädchen in den tiefen Wäldern umher. Dann kam es an ein Häuschen.« Sie zwinkerte Vesper zu. »Kein Pfefferkuchenhaus, aber so ähnlich. Lebkuchen ist das, was man zu finden hofft, wenn man verzweifelt ist, nicht wahr?« Sie seufzte. »Ich öffnete ihr die Tür, und da stand sie: ein zwölfjähriges Mädchen, verängstigt und durcheinander.«
    Jonathan Andersen lauschte ihr angespannt und mit Tränen in den Augen.
    Vesper sah die Bilder vor sich.
    Ein Mädchen, schmutzig und verirrt.
    Wer bist du?, fragt das Kind.
    Ich bin eine Hexe, antwortet die Frau.
    Bilder, die ablaufen wie in einem Film ihres Vaters .

    Im Haus kommt das Mädchen wieder zu Kräften. Es trinkt heiße Brühe und schläft behütet in einem Bett mit einer Decke voller Daunen. Es hilft der Hexe in der Küche, und es vergehen ein Tag und eine Nacht, bis die Hexe es zum nächsten Dorf bringt,

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