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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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murmelte er. »Man weiß nicht, was aus all den Jungs geworden ist.« Er biss erneut in den Apfel hinein.
    »Was willst du hier?«
    Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. »Ich bin auf der Wanderschaft. Kam so vorbei.«
    »Du bist sehr gesprächig«, sagte Vesper.
    »Nein, eigentlich nicht. Bin eher der schweigsame Typ.« Er sah sie an. Aus dunklen braunen Augen. »Weißt du was? Wir werden uns küssen, und dann wirst du mich in den Wald hinausschicken.«
    Wer war der Kerl?
    »Warum sollte ich dich küssen?«
    »Du küsst gern.« Er lachte frech. Biss erneut in den Apfel. »Du siehst aus wie eine, die gern küsst und dann fortläuft.«
    Vesper grollte. »Ich laufe nicht fort.«
    »Du schickst die Jungs nach draußen, wo sie gefressen werden.«
    »Sie sind alt genug, um sich im Wald auszukennen«, wies sie jede Schuld von sich.
    Er trat auf sie zu. Er überragte sie um einen Kopf.
    »Du siehst wirklich aus wie jemand«, erkannte der junge Mann, »der gern küsst.«
    »Eigentlich wollte ich allein sein.« Sie wusste, dass sie sich störrisch anhörte und unfreundlich. Ihre Finger umspielten einander nervös.
    »Es stört dich doch nicht, wenn ich hierbleibe? Über Nacht?«

    Der Kerl nervte. »Niemand ist jemals so lange geblieben.«
    »Okay, dann gehe ich ein wenig auf Distanz.« Er trat zwei Schritte zur Seite. »Etwa so.«
    Er wirkte verschroben. Er war niemand, den sie jemals gesehen hatte, wenn sie ins Dorf gewandert war.
    »Noch einen Schritt.«
    Widerwillig musste sie lächeln.
    »Du hast gelächelt«, stellte er fest.
    Sie erwiderte nichts.
    »Ich bleibe hier stehen, genau an dieser Stelle, so lange, bis du mir einen Kuss gegeben hast.«
    Er konnte einfach nicht den Mund halten!
    »Was wird das hier?«
    Er beugte sich ein wenig nach vorn, balancierte wieder unruhig herum. »Wie meinst du das?«
    »Du bist dir im Klaren darüber, dass dies die dämlichste Anmache überhaupt ist?«
    Er schüttelte schnell den Kopf. »Oh nein, ist es nicht. Tut mir leid, wenn es so wirkte. Wirkte es so? Nein, ich denke nicht.« Er fuhr sich durchs Haar, atmete tief durch. »Ich bin hier, weil du hier bist.« Er reichte ihr den Apfel. Sie sah ihn abfällig an.
    »Weißt du was? Wir stehen hier einfach eine Weile herum und schweigen.«
    »Kriegst du das denn hin?« Irgendwie schaffte sie es nicht, den Blick von dem Apfel zu lösen.
    »Zu schweigen?«
    »Ja.«

    »Denke schon.« Er lächelte sie an, als habe er etwas ausgefressen. »Du musst dir also keine Gedanken machen. Wir haben uns einander nicht vorgestellt, was okay ist. Zwischen uns bleibt es also unverbindlich. Wir sind einfach nur zwei Fremde.«
    Vesper konnte das Lächeln nicht länger unterdrücken. »Gut«, sagte sie. Was hatte sie schon zu verlieren?
    Er klatschte in die Hände. »Toll, das wäre also geklärt.«
    Wieder hielt er ihr den Apfel hin.
    Vesper starrte ihn an. Rotglänzend und saftig. Dann ergriff sie die Hand des Jungen und biss in den Apfel hinein. Das Fruchtfleisch schmeckte süß und wunderbar, und noch während sie kaute und schluckte und ihr der Saft über das Gesicht lief, spürte sie, wie ihre Lippen die seinen suchten. Beide versanken sie in einem Kuss, der ganze Tage und Nächte dauern mochte, sie wusste es nicht.
    Dann löste er sich aus der Umarmung und sagte: »Entschuldige …«
    Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen.
    »Ich gehe jetzt.«
    Was sollte sie darauf erwidern? »Ja, ist gut.«
    »Es war schön, dir zufällig zu begegnen.«
    »Ja.«
    »Viel Glück«, wünschte er ihr.
    »Wozu?«
    »Wir alle brauchen Glück, oder etwa nicht?« Er sah sie lange an. »Du hast wunderschöne Augen.« Er ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen. »Aber sie sehen rastlos
aus.« Die unruhigen Finger zupften an der Tolle, die bei jeder Bewegung seines Kopfs auf und nieder hüpfte. »Ich wünsch dir so viel Glück, dass deine Augen wieder zu lachen lernen.«
    Woher kannte sie diesen Ausspruch?
    »Ja«, war alles, was sie zustande brachte.
    Er machte auf dem Absatz kehrt und latschte beschwingt aus der Hütte.
    Du bist jetzt allein.
    Der Gedanke war klar und wie ein Schlag in den Magen.
    Ganz allein.
    Mit einem Mal schrie Vesper auf.
    Allein, wie du es immer gewesen bist.
    Sie spürte, wie klein die Hütte war, und sie rannte nach draußen, wo die Nacht dunkel und dicht war.
    Sie wollte nicht hierbleiben, wie sie es immer getan hatte. Deshalb rannte sie, so schnell sie konnte.
    Sie erkannte seine Silhouette, die vorn den Weg entlangging.
    Nein, sie durfte

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