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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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wo es seine Eltern wiedersehen wird.
    Alle sagen, dass Hexen böse sind, sagt das Mädchen, als sie durch den Wald gehen.
    Ich bin nicht böse.
    Und die Wölfe?
    Sind manchmal hungrig, aber das sind wir doch alle manchmal, oder etwa nicht?
    Das Mädchen nickt höflich. Ich mag dich.
    Ich mag dich auch.
    Sie gehen eine ganze Weile, und dann, als das kleine Dorf schon in der Ferne auftaucht, sagt das Mädchen: Ich werde dir nie wehtun, auch wenn alle das von mir verlangen.
    Die Hexe bleibt stehen: Jemand verlangt das von dir?
    Das Mädchen nickt traurig: Deswegen bin ich fortgelaufen. Meine Mama hat mir gezeigt, was mit den Märchen passiert, wenn sie zu böse werden.
    Die Hexe wird bleich: Du hast den Spiegel gesehen?
    Wir sind hindurchgegangen. Ich habe gesehen, was hinter dem Spiegel ist. Deswegen bin ich fortgelaufen.
    Die Hexe nimmt das Mädchen bei der Hand: Du bist ein gutes Kind.
    Das Mädchen lächelt. Und du bist eine liebe Hexe.
    »Daraufhin ist Carlotta allein ins Dorf zurückgekehrt«, erinnerte sich Theodora Zobel mit sorgenvollem Blick.
»Ich wollte es tunlichst vermeiden, ihrer Mutter zu begegnen.«
    »Haben Sie trotzdem Ärger bekommen?« Vesper konnte sich eigentlich kaum etwas anderes vorstellen.
    »Ich bin fortgegangen, weil sie nach mir gesucht haben. Erst zwei Jahre nach der Begegnung mit Carlotta bin ich hierher zurückgekehrt. Seitdem lebe ich ruhig in dieser Kate.«
    »Sie hat mir von Ihnen erzählt. In Heidelberg, an der Universität«, sagte Andersen.
    Das musste gut zehn Jahre nach dem Vorfall in den Wäldern gewesen sein.
    »Sie war ein gutes Mädchen«, flüsterte Theodora Zobel. »Ich habe geweint, als ich von ihrem Tod erfuhr.«
    »Ja«, war alles, was Andersen hervorbrachte.
    Die Hexe streichelte Edgar, der das Köpfchen schief legte. »Lasst ihn hier bei mir, wenn ihr zum Spiegel geht.« Sie meinte es aufrichtig. »Die Welt, die ihr sucht, ist kein Ort für ihn. Er wird sich fürchten, und vielleicht würde er sterben. Es gibt böse Wesen dort drüben.«
    Jonathan Andersen schien den Vorschlag zu überdenken, doch eigentlich hatte er sich schon entschieden.
    »Also gut, ich vertraue Ihnen.«
    Edgar machte einige Zeichen mit den Pfoten.
    »Sie haben ihm die Sprache der Menschen beigebracht?«
    »Meine Vorfahren haben das getan«, antwortete Andersen. Er stand auf, ging zu Edgar. Das Äffchen sah ihn traurig mit seinen Kulleraugen an. »Morgen fahren wir nach Hamburg zurück«, versprach er dem Äffchen.

    Edgar antwortete in seiner schwarz-weißen Gebärdensprache; außer Jonathan Andersen sah niemand, was er meinte.
    »Lasst uns keine Zeit verlieren«, schlug Andersen sodann vor.
    Theodora Zobel streichelte dem Äffchen den Rücken. Dabei zeigte sie ihnen auf einer Karte, die sie im Sekretär aufbewahrt hatte, wo man den Spiegel finden konnte. Es war nicht mehr weit, zumindest nicht bis zu dem toten Baum.
    Vesper und Leander folgten Andersen zur Tür.
    »Seid vorsichtig.« Theodora Zobel, die Hexe, stand im Türrahmen und schaute ihnen nach. »Der Weg, den ihr geht, ist gefährlich.« Das Äffchen hob zum Abschied die Pfote.
    Andersen sah nicht einmal hin.
    Dann brachen sie auf.
     
     
     
    Sie fuhren mit dem Rover bis zu einem Dorf namens Moorfeld, von da an begann die Wildnis. Einem schmalen Waldweg folgten sie noch zwei Kilometer, bis der Schnee zu hoch und in den Verwehungen zu gefährlich war, als dass man noch weiter hätte fahren können. Selbst Goethe war hier im Winter nicht hinauf auf den Brocken gekommen, und auch der Rover hatte seine Schwierigkeiten mit der Witterung.
    Die Laubbäume im dichten Wald waren kahle Gerippe, die ihre Äste, hungrigen Fingern gleich, nach den Wanderern
reckten. Hohe Tannen säumten den Weg. Wo sie sich erhoben, war der Wald dunkel und noch kälter. Die Nacht ging hier nie ganz vorüber, nur einzelne Lichtstrahlen fielen durchs Geäst.
    Vesper und Leander stapften hinter Andersen her, der selbst jetzt, in dieser Wildnis, seinen Mantel trug. Er folgte schnurstracks und zielsicher der Landkarte auf seinem iPad.
    »Der Spiegel befindet sich unter einem toten Baum«, hatte die Hexe ihnen allen erklärt. »Ihr werdet ihn erkennen, denn ihr seid im Besitz der Steine.«
    Doch um welches Gestein es sich bei dem grün glänzenden Zeug handelte, das hatte sie ihnen nicht sagen können.
    »Spiegel sind gefährliche Geschöpfe«, hatte die Hexe ihnen mit auf den Weg gegeben. »Sie zeigen euch das, was wirklich in euch ist. Sie zeigen euch, wer ihr seid. Wer

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