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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Mensch, der da in Todesangst aufschrie. Jemand trommelte mit den Fäusten wild gegen die Fensterläden.
    »Lass mich ein!« Sie kannte die Stimme. Sie gehörte einem anderen Jungen aus dem Dorf. Sie hatte seinen Namen vergessen. Rote Haare hatte er, das wusste sie.
    Er hämmerte gegen die Tür.
    In der Ferne erklang ein Grollen.
    Ja, sie wusste auch, dass sie ihn herbestellt hatte. So war es immer, das war ihre Art. Sie verabredete sich mit den Jungs für einen Abend, und sie kamen, und später dann schickte sie sie wieder fort.
    Das Grollen wurde lauter.
    In Gedanken sah sie ihn vor sich, wie er Wasser vom Brunnen holte und von den anderen Mädchen bewundert
wurde. Die roten Haare, der nackte Oberkörper, die breiten Schultern.
    Jetzt drangen seine Schreie an ihr Ohr, Schreie, die nur erahnen ließen, was mit ihm geschah.
    »Wenn wir die Tür öffnen«, sagte der blonde Junge in der Hütte schnell und aufgeregt, »dann werden sie auch uns anfallen.«
    Das heftige Kratzen war erneut an den Fensterläden zu hören. Die panischen Laute der Schafe und Ziegen lösten die Schreie des Jungen ab. Da waren schlurfende Schritte im Schlamm vor dem Haus zu hören. Etwas mit langen Krallen schabte weiterhin an den Wänden entlang, versuchte scheinbar ohne Sinn und Verstand einen Weg ins Innere des Hauses zu finden.
    Dann verstummte auch das letzte Blöken.
    Der Wind heulte weiter ums Haus.
    Sie glaubte, leise Stimmen zu erkennen, unartikulierte Laute von großen Tieren, die sich da draußen versammelten.
    Grunzen, Geifern, Knurren.
    Ruhe trat ein.
    Es war eine Stille, die förmlich zu schreien schien.
    »Du musst jetzt gehen«, sagte sie zu dem Jungen, der bei ihr war.
    Sie wusste, dass sie ihm damit ein Leid antun würde, aber die Worte sprudelten aus ihr heraus, wie sie es immer taten. Sie wollte keinen Jungen bei sich haben, nicht hier und jetzt und erst recht nicht am nächsten Morgen.
    »Du willst mich da hinausschicken?«

    »Du kannst nicht bleiben.«
    Er fiel vor ihr auf die Knie. »Aber du hast doch gehört, was da draußen ist.«
    »Es ist wieder ruhig.«
    »Sie sind noch da.«
    »Vielleicht haben wir uns das alles nur eingebildet.«
    »Ich bitte dich.«
    Sie ging zur Tür, schob den Riegel zur Seite. Sie ergriff seine Hand und zog ihn hinter sich her.
    »Es war schön mit dir«, sagte sie, und ihre Stimme war so wie immer, wenn sie das sagte.
    »Aber ich liebe dich doch.« Er ließ nicht locker.
    »Sag so was nicht.«
    »Aber ich muss andauernd an dich denken.«
    »Nein, musst du nicht.«
    »Ich habe dir Blumen gepflückt.«
    »Niemand hat dich darum gebeten.«
    »Was soll ich denn tun, wenn ich allein da draußen bin?«
    »Du wirst jemanden finden.«
    »Das nächste Dorf ist weit fort.«
    Sie öffnete die Tür. Dunkelheit war da draußen.
    »Geh!«
    Sie schob ihn hinaus. Dann schloss sie die Tür hinter ihm und atmete durch.
    »Du bist herzlos!«, schrie der blonde Junge von draußen.
    Allein, allein, endlich wieder allein.
    Sie frohlockte, seufzte. Als das Knurren und die Schreie die Nacht zerrissen, schloss sie die Augen.

    Nein, sie hörte das nicht. Er würde es schaffen, irgendwie. Die Schuld traf nicht sie. Die Jungen kamen immer ganz von allein. Sie verließen das sichere Dorf und gingen den ganzen langen Weg durch den Wald, bis sie an diese Hütte kamen, und dann klopften sie an und baten um Einlass. Diese dummen Jungen, ahnte denn keiner, dass sie niemandem gehörte?
    Ich gehöre nur mir allein.
    So war es schon immer.
    Die Stimmen der Tiere vor der Tür wurden zu den Stimmen, die sie kannte.
    Dann, ohne dass zuvor jemand angeklopft hätte, wurde die Tür aufgerissen.
    Ein junger Mann stand dort.
    »Ein Mädchen mit einem Geheimnis«, hörte sie seine Stimme sagen.
    Er trug ein braunes Tweedjackett, die dazu passende Hose, überhaupt nicht zu allem anderen passende schwere braune Stiefel, eine altmodische Fliege. Das braune Haar stand ihm wie wild vom Kopf ab, und eine unruhige Tolle baumelte rastlos vor seiner hohen Stirn. Seine Hand ruhte einen Moment lang auf seinem kantigen Kinn, dann steckte er sie in die Hosentasche und machte eine schaukelnde Bewegung zur Seite, als balanciere er auf einem unsichtbaren Seil.
    »Kennen wir uns?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht.« Er griff in die Tasche seines Jacketts und hielt sogleich einen Apfel in der Hand. »Möchtest du?«

    Instinktiv schüttelte Vesper den Kopf. »Nein, danke.«
    Er biss hinein, kaute energisch, schluckte. » Der Wald, hm«,

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