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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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erneut.
    Rot …
    Die Vesper im Spiegel ergriff sie, eisig kalt, dann spürte sie ein Zerren und Wind, der ihr ins Gesicht schlug. Sie schloss die Augen und …
    … rosenrot, ganz rosenrot …
    … stolperte durch den Spiegel hindurch auf die andere Seite und …
    … befand sich in einem Raum, der niedrig und warm war. Sie streifte ab, was sie an Vesper Gold und Herz und Seele mitgebracht hatte, und …
     
     
     
    … war das Mädchen, das allein in den Wäldern lebte. Dieser Ort war ihr Zuhause, und sie lebte hier schon so lange, dass ihr alles vertraut war. Jeden Winkel kannte sie, all die Geräusche war sie gewohnt.
    Sie ging zu der schweren Holztür und öffnete sie.
    Draußen gab es nur dichten Wald und einen kleinen Bach, der sich durch das Laub und das dunkle Gestein schlängelte. Das Wasser plätscherte, sanft wehte der Abendwind, und die Sonne glänzte matt über den Spitzen der großen Bäume. Nur die Farben der Wälder wirkten gedämpft im kalten Licht der hereinbrechenden Dämmerung. Die tiefe dunkle Nacht war bereit, ihre Schwingen auszubreiten.

    Wo bin ich hier, verdammt noch mal?, dachte sie. Wo sind die anderen? Doch selbst diese Fragen waren kaum mehr als ein Echo, das verhallt war, bevor sie sich noch einmal daran erinnern konnte. Denn Fragen waren unwichtig. Ihren Namen und alles, was einmal gewesen war, hatte sie hinter sich gelassen. Sie war jetzt hier, in ihrer Welt.
    Dies ist mein Leben.
    Das bin ich, so wie ich wirklich bin.
    Im Dorf, das fernab von dieser Lichtung lag, lebten ihre Eltern. Sie stritten sich den ganzen Tag, und aus ihren Augen und Worten sprach nur Hass. Sie erinnerte sich an eine Schwester, die allein in den Wald gegangen und den bösen Wölfen zum Opfer gefallen war, aber daran wollte sie jetzt gar nicht denken.
    Sie selbst war immer achtsam gewesen. Sie lebte. Sie war hier. Sie war das Mädchen, das allein im tiefen Wald lebte.
    Sie ging wieder hinein in die Stube und schloss die Tür hinter sich. Wenn die Nacht kam, dann musste man das tun. Jeder, der im Wald lebte, wusste das. Jeder, der es nicht wusste, war des Todes.
    Sie seufzte.
    Die Stube war klein und von einer gemütlichen Wärme durchdrungen, sanft knisterte das Kaminfeuer und prasselte leise. Von den dicken hölzernen Balken, die eine niedrige Decke trugen, baumelten kleine Sträuße getrockneter Blumen herab und hier und da eine Laterne, die den Raum in weiches Licht tauchte. In der Mitte des Raumes stand, gesäumt von einfachen Schemeln, ein Holztisch, an dem ein Junge saß, den sie kannte.

    Er war aus dem Dorf gleich unten beim breiten Strom. Blondes Haar hatte er, Sommersprossen, selbst im Winter. Er war ein kräftiger Junge, der später einmal ein Holzfäller werden würde. Sie betrachtete seine starken Arme. Sie wusste nicht genau, wann er gekommen war. Ja, sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, ihm Einlass gewährt zu haben.
    »Warum bist du hier?«, fragte sie ihn.
    Doch bevor sie weitersprechen konnte, schlug etwas Schweres von draußen gegen die geschlossenen Fensterläden.
    Die Nacht, das wusste hier jeder, konnte schnell hereinbrechen. Deswegen waren die Fensterläden auch am Tage geschlossen. Jeder, der hier lebte, wusste das.
    Der Junge aber rannte trotzdem zum Fenster, hinter dem das Geräusch zu vernehmen gewesen war. Aufgeregt kontrollierte er mit hochrotem Gesicht die eiserne Verriegelung.
    »Sie sind hier«, sagte er.
    »Wer?«
    »Sie kommen, wenn es dunkel wird.«
    Verdammt, wovon redete er? »Wer ist da draußen?«
    Panisch starrte er sie an. »Märchen«, sagte er. »Alles, was im Dunkeln lebt und das Licht scheut.«
    Ein schabendes Geräusch zerschnitt die Stille. Es hörte sich an, als tasteten sich Krallen von draußen am Fensterladen entlang. In der Stube war es heiß und still und stickig. Ein leiser Wind heulte um das Haus, und das Holz knackte im Kaminfeuer.

    »Am Tage sieht man sie nicht. Man muss auf dem Weg bleiben. Wenn man den Weg verlässt, dann kommen sie und holen einen.«
    Das Kratzen wurde lauter, erscholl nun auch von den anderen Fenstern her.
    »Es sind viele«, murmelte der Junge. Vesper musterte seinen Körper und sah, dass er zitterte.
    Dann verstummten die Geräusche von draußen so plötzlich, wie sie begonnen hatten.
    Da war nur das durchdringende Blöken der Schafe und Ziegen zu hören. Die armen Tiere klangen ganz aufgeregt, sie wurden immer lauter und unruhiger.
    Dann hörten sie den Schrei, langgezogen und voller Verzweiflung.
    Zweifelsohne war es ein

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