Grimm - Roman
ihn nicht verlieren.
»Leander!«, schrie sie. Die Angst ließ ihr das Herz schlagen. Oh, mein Gott. »Leander!« Denn das war sein Name. Ja, sie erinnerte sich an den Namen. Er war Leander Nachtsheim, und sie war Vesper Gold.
All die Jahre hatte sie namenlos in der Hütte mitten im Wald gelebt, und jetzt wusste sie ihren Namen.
Und sie kannte seinen.
Spieglein, Spieglein …
Doch Augen in der Finsternis öffneten sich und sahen sie. Eine Klaue fuhr hernieder, krumm und morsch wie ein langer Ast.
Vesper spürte einen lodernden Schmerz, der ihr den Atem nahm, und erkannte eine lange, klaffende Wunde an ihrem Arm. Blut rann ihr durch die Finger, und sie schrie vor Schmerzen auf, so gellend und glühend rot, dass ihr die Tränen heiß in die Augen schossen.
Ja, Spieglein, Spieglein …
Dachte sie.
Ohne Sinn.
Spiegel sind heimtückische Wesen, erinnerte sie sich der Worte der Hexe.
Ja, jetzt fiel ihr alles wieder ein.
Nun, da sie die Sicherheit der Hütte verlassen hatte und allein durch den Wald rannte.
Pelzige Leiber fielen über sie her, und dann spürte sie eine Hand, die sie nach vorn zog.
»Vesper?«
»Du weißt, wer ich bin?«
Sie rannten zwischen hohen Bäumen hindurch und waren so langsam wie Kinder, denen im Traum die Wölfe nachsetzen. Raubtiere hetzten mit feuchten Lefzen hinter ihnen her, sie hörte ihr Keuchen und Grollen.
Dann wurde der Boden unter ihnen zu einem Moor. Dichter Morast sog sie hinab in die Tiefe. Kalte Finger umschlossen ihre Knöchel und zogen sie nach unten.
Moorjungfrauen, dachte sie benommen.
Die Raubtiere näherten sich jetzt langsam. Nur glühende Augen waren von ihnen zu sehen, die massigen Körper verbarg die Nacht.
»Leander?« Ihre Stimme überschlug sich.
Sie hörte ihn gurgeln.
Nein, das durfte nicht sein.
Ihre Hände suchten in der morastigen Dunkelheit nach ihm, doch sein Arm wurde in die Tiefe gezogen. Oh, dieses Geräusch! Sie hatten ihn schon hinab ins feuchte Grab gezogen!
Moorjungfrauen.
Nein, sie durfte das nicht zulassen. Sie konnte nicht wieder allein in der Hütte leben.
Der Wald war jetzt anders, da sie Leander kannte.
Sie rief seinen Namen und spürte, wie sein regloser Körper sie mit sich in die Tiefe nahm.
»Ich bleibe bei dir«, ächzte sie. Mit letzter Kraft hielt sie sich an ihm fest. Das Knurren der Bestien wurde still, das kalte Moor umschloss ihren Hals, ihr Kinn, drang ihr in die Haare.
Sie hielt den Mund geschlossen und dachte an Leander. Schlamm kroch ihr in die Nase, ließ sie würgen.
Ihr Gesicht wurde starr, und ihr Herz zerbrach, und …
… sie stürzte nach vorn, wo sie sanft aufgefangen wurde.
»Wir sind im Winterland«, sagte Leander bloß.
Vesper zitterte am ganzen Leib. Sie schlang die Arme um ihn und weinte einfach nur. »Ich dachte …«
»Wir waren im Moor«, sagte er. »Wir sind ertrunken.«
Sie starrte ihn an. »Was …?«
»Ich weiß es nicht. Der Spiegel hat uns etwas gezeigt.« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Jetzt sind wir hier.«
Vesper atmete tief durch.
Sie war ganz nah bei ihm. Er war hier, meine Güte, er war nicht fort! Sie war nicht allein.
»Vesper! Leander!« Jonathan Andersen taumelte auf sie zu, stand still, atmete durch, blinzelte. »Der Spiegel ist wirklich heimtückisch«, stellte er fest. »Was hat er euch gezeigt?«
»Uns«, sagte Leander nur.
Andersen dachte darüber nach, nickte, grinste. »Gut.« Er sah sich um, seufzte, sagte: »Wir sind also angekommen.«
Zu dritt standen sie nun dort herum, wo sie eben erst gelandet waren, und bestaunten den Anblick, der sich ihnen bot.
»Wow«, entfuhr es Vesper.
Leander flüsterte: »Exakt.«
Und Andersen überprüfte die Pistole unter seinem Arm.
Der Wald war dichter als jeder Wald, den Vesper je zuvor gesehen hatte. Die hohen Bäume waren mit nichts zu vergleichen, was sie noch eben am Brocken gesehen hatte. Und eines war ihr sofort klar: Dies hier war nicht länger der Harz, dies war eine andere Gegend, näher als ihr eigenes Herz, und doch so fern, dass sie normalerweise ihr
ganzes Leben brauchen würde, um zu diesem Ort zu wandern. Er war fernab jeder Karte, und doch tief in allem verwurzelt, was die Menschen je gekannt hatten. Ein Ort der Magie, der verborgen in den Klüften und Felsen des Harzes hauste, irgendwo versteckt, unentdeckt, lauernd.
Vesper hatte keine Ahnung, welche Wesen hier draußen leben mochten. Sie wollte es auch gar nicht wissen, denn sie ahnte es.
»Da!« Sie folgte
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