Grimm - Roman
begraben unter Lawinen von Vergessen, das seit Jahren ein treuer Gefährte war.
Ursache noch nicht geklärt.
Sie stand unter Schock, überflog die Artikel, die erwähnten, wie ihr Vater gewesen war, wie seine Filme gewesen waren, wie sehr die Welt um ihn trauerte, und immer nur so weiter.
Gewaltverbrechen wird nicht ausgeschlossen.
Leere Worte allesamt, belanglos wie glockenhelle Stimmen, die ein trauriges Lied anstimmen wollen, aber unfähig sind, es wirklich zu singen.
Sie rieb sich müde die Augen. Ihr mattes Spiegelbild auf dem Bildschirm schmeichelte ihr überhaupt nicht.
Mechanisch erhob sie sich, zahlte am Tresen und ging nach draußen in die Nacht.
Es war einmal …
Es war wie im Märchen. Im Märchen kam es immer anders, als man dachte.
Vesper wusste das, nun mehr denn je.
Berlin.
Regisseur tot in seiner Wohnung aufgefunden.
Die scharfen Spiegelsplitter der Zeit bohrten sich noch immer schnell und unbarmherzig in ihre grünen Augen, wenn Vesper es zuließ. Die Kindheit auf dem Land, der Umzug nach Berlin, die Karriere ihres Vaters. Affären, Kränkungen, die Scheidung ihrer Eltern. Kürzlich der Umzug nach Hamburg, die Schwierigkeiten in der neuen Schule, die immer dürftiger werdenden Telefonate mit ihrem Vater, die vielen Leben, die auseinandergingen, ohne dass man es wollte. Das alles wie eine schnelle Montage
aus den Filmen, die er gedreht hatte. Filme, von denen Vesper meist nur die Plakate kannte.
Maxime Gold.
Wohnung verwüstet.
Sogar sein Name klang wie ein entferntes Echo, das sich nach und nach im Gebirge verliert.
Nachbarn berichten von einem Besucher.
Gestern war er schon gestorben, irgendwie, sogar im Tod noch war er ihr ein Rätsel.
Identität des Besuchers noch nicht ermittelt.
Eine enge Freundin - wer immer diese Freundin auch gerade war - hatte ihn angeblich gefunden, irgendwann am späten Nachmittag, und die Umstände, so stand es jedenfalls überall in den Portalen der Tageszeitungen, ließen, darin drückten sich die Medien vage und rätselhaft aus, eine unnatürliche Todesursache nicht ausschließen.
Ein flaues Gefühl breitete sich in Vespers Magengrube aus.
Sie schnappte nach Luft.
Sie nahm alles wie in Zeitlupe wahr, langsam und fast wie erstarrt.
Es war einmal …
Vor langer, langer Zeit …
Fühlte sie Trauer?
Nein, nicht einmal das. Nur Verwirrung, Chaos, Schmerz, verborgen in ihrem Herzen, das einsam war. Eben noch hatte sie sich über Julia und Saskia geärgert, und nun wusste sie, dass ihr Vater gestorben war.
Tot.
Einfach so.
»Scheiße«, krächzte sie.
Sie fühlte sich nicht annähernd so leer wie damals, als sie so unverhofft vom tragischen Schicksal ihrer Schwester erfahren hatte. Aber leer und schwach fühlte sie sich trotzdem.
Lärm aus der Wohnung.
Sie lief durch leere Straßen, deren Namen sie nicht kannte, und hörte nur ihr eigenes Herz schlagen.
Berichten die Nachbarn.
Seltsamerweise musste sie ausgerechnet jetzt an die Klavierklänge denken, die durch die Wohnung hallten, an die nervösen Zurechtweisungen ihrer Mutter, wenn sie sich in ihrer Konzentration gestört fühlte. Für einen Augenblick nur war sie wieder ein kleines Mädchen und bekam die Wut und die ungezügelte Ungeduld ihrer Mutter zu spüren.
Sie rieb sich die Arme, als könne sie noch immer die Schmerzen spüren, da, wo ihre Mutter sie gepackt hatte, um sie in den Keller zu zerren.
»Da unten wirst du Ruhe geben, verdammt noch mal, ich habe einen wichtigen Auftritt, geht das nicht in deinen Kopf?!« Spitze Fingernägel, lang und lackiert, die sich ins Fleisch ihres Armes bohren. Tränen, die ihr heiß übers Gesicht rinnen. Die Furcht vor der erdigen Dunkelheit und dem pochenden Geräusch des Heizkessels. Die laute Stille, die bleibt, wenn sich der Schlüssel im Schloss erst einmal umgedreht hat. Der Herzschlag, der langsam
nur ruhiger wird. Die Schemen, die sich vor den Augen des Kindes erheben. Die Angst, die mehr als nur ein Kinderlachen auffrisst.
Ja, so konnte Margo Gold sein, wenn sie nicht nett war. Wenn sie unter Stress stand.
Die Welt hatte sie gefeiert.
Mit ihrem anmutigen Lächeln hatte sie die großen Zeitschriften geziert.
Und trotzdem war Vesper stolz auf sie.
Ganz schön verrückt war das.
Ihr Vater jedenfalls hatte sie immer getröstet, wenn ihre Mutter ausgerastet war. Er hatte sie in die Arme genommen und ihr etwas erzählt, er hatte sie aus dem Keller gerettet und ihr Geschichten und Märchen erzählt; so lange, bis Margo schließlich
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