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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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reumütig zu ihnen gekommen war und ihre Tochter ganz lange und ganz fest in die Arme geschlossen, bittere Tränen vergossen und aufrichtige Entschuldigungen geflüstert hatte.
    Ach, ja, dachte Vesper, meine Familie.
    Eine Familie, die waren sie einmal gewesen. Vor langer, langer Zeit. Das war nun vorbei, einfach so.
    Maxime Gold war fort auf ewig, und nichts und niemand würde ihn mehr zurückbringen.
    Die Straßenlaternen benetzten die Dunkelheit mit leuchtenden Inseln auf dem nassen Kopfsteinpflaster.
    Es waren einmal zwei Schwestern …
    Ja, das klang wie im Märchen.
    Zwei Schwestern, die beide allein waren, jede für sich.

    Vesper rannte weiter durch die Nacht, fassungslos und wie betäubt. Alles, was so weit entfernt gewesen war, kam ihr wieder in Erinnerung.
    Warum nur konnte sie jetzt nicht weinen?
    Hätte sie denn nicht in bitterste Tränen ausbrechen müssen? Sie wusste doch, dass sie ihren Vater geliebt hatte.
    Es war einmal …
    Nein, nicht so!
    Die Geschichte ging anders.
    Es waren einmal zwei Töchter, und die eine Tochter wusste, dass der Vater die andere mehr liebte.
    Plötzlich wütend, ballte sie die Hände zu Fäusten.
    Aber die Tochter, die weniger geliebt wurde, liebte ihren Vater dennoch.
    Fluchend spürte sie die Eissplitter in ihrem Herzen wachsen.
    Und wie ich ihn geliebt habe.
    Nie hatte sie sich vorstellen können, allein zu sein.
    Wie gut man sich doch selbst belügen konnte! War sie das denn nicht immer schon gewesen? Allein, verlassen?
    Hatten sich nicht alle Ängste bewahrheitet, als ihre Schwester gegangen war?
    Sie erinnerte sich an die Schreie, die Stille, an alles andere auch.
    Vesper atmete tief durch.
    Einfach so.
    Maxime Gold.
    Passieren Dinge.
    Sie dachte an sein Lachen.

    Er ist fort.
    Das Funkeln in seinen Augen.
    Ihr entrissen.
    Seine Stimme.
    Nie, nie wieder.
    Erneut schnappte sie nach Luft.
    Ja, jetzt war er tot, erloschen, auf immer, und alles, was von ihm blieb, waren Erinnerungen und die Filme, die sich kaum jemand mehr anschaute. Maxime Gold, dessen eigener Vater bereits Schauspieler gewesen war. Ein Gesicht, das die Filme der Ufa geprägt hatte.
    Und was überdauerte, wenn der Ruhm im Wind verwehte?
    Nichts als Schall und Rauch. Herbstlaub, das braun wird und welk.
    »Lass das!«, sagte sie plötzlich laut zu sich selbst. Die eigene Stimme brachte sie in die Gegenwart zurück.
    Dann rannte sie weiter. Immer in die nächste Straße hinein, weiter und weiter und immer nur weiter.
    Sie musste sich bewegen. Das war alles, was sie jetzt wusste.
    Sie kannte die Straßen und wusste, wohin sie führten.
    Nein, sie war nicht vom Weg abgekommen.
    Sie war fast daheim, nur eine Runde noch, nur einmal noch um den Block, bis ihr die Luft in der Kehle brannte. Nur einmal noch, ganz schnell, um all die Zweifel und Gedanken zu töten.
    So schnell lief sie durch die graue kalte Welt und so laut pochte ihr das Herz, dass sie die Schritte, die ihr folgten,
gar nicht hörte. Und den langen Schatten, der ihr auf den Fersen war, gar nicht sah.
     
     
     
    Sie lebte allein, drüben im portugiesischen Viertel, wo sich die Studenten und Künstler tummelten. Hoch oben, unter dem Dach eines der großen Häuser mit den vielen Balkonen, da wohnte sie. Im Sommer war es warm, und im Winter würde es kalt und zugig sein, die rostige Heizung klapperte bereits seit Wochen lautstark in der Nacht, und wenn Vesper träumte, dann tat sie das im pochenden Rhythmus dieses Geräuschs.
    Als sie an diesem Abend die hölzerne Treppe hinaufrannte, war sie ganz außer Atem.
    Ihr Zuhause.
    Die Wohnung, die sie sich erbettelt hatte.
    Hier war sie daheim.
    »Ich will eine eigene Wohnung haben.« Frech hatte sie das von ihrer Mutter gefordert.
    Und bekommen, was sie wollte.
    Sie öffnete die Tür, stürmte hinein, ließ die Tür zuknallen.
    Es war hoffnungslos, denn es gab keine Antworten für sie. Nicht hier, nicht jetzt.
    Nicht heute Nacht.
    Sie stand mit dem Rücken zur Tür und atmete schnell und hastig. Dann sank sie zu Boden und blieb so eine Weile sitzen.
    Mühsam und langsam erhob sie sich schließlich und schlurfte ins Bad. Auf dem kurzen Weg dorthin streifte
sie ihre Klamotten ab, ließ sie achtlos auf den Boden fallen. Sie ging unter die Dusche, schloss die Augen und ließ fast eine Stunde lang dampfend heißes Wasser über ihren zitternden Körper laufen.
    Sie atmete.
    Sonst nichts.
    Versuchte, an gar nichts zu denken.
    Völlig versunken und entrückt wurde sie dieser matten Welt aus heißer Wärme und

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