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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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tosendem Dampf gewahr und hatte das Gefühl, sich selbst ganz und gar darin zu verlieren. Sie spürte die quälende Angst und die Verzweiflung und weinte, brach schluchzend in der Dusche zusammen und blieb dort auf dem Boden sitzen, während das Wasser unaufhörlich an ihr hinablief. Sie gab sich dem Rauschen hin, als sei dies das einzige Geräusch, das ihr in der Welt geblieben war. Sie weinte so laut und so heftig schluchzend, wie sie zuletzt als kleines Mädchen in dem riesigen Haus in Berlin geweint hatte, und sie ließ das Wasser die Tränen fortspülen, vollkommen hilflos und erschöpft, so lange, bis keine Träne mehr übrig war und das Beben in ihr verebbte.
    Dann erst, nach mehr als einer Stunde, fand sie die Kraft, die Dusche zu verlassen.
    Sie drehte das Wasser aus, stand auf, streckte sich.
    Im nebelerfüllten Badezimmer tastete sie nach den Handtüchern, wickelte sich eins um die Haare, trocknete sich mit dem anderen langsam ab. Sie schlüpfte in neue Klamotten, die ebenso schwarz und trostlos wie die abgelegten waren, und rannte barfuß und unruhig in der Wohnung
auf und ab. Sie legte eine CD ein und ließ immer und immer wieder das gleiche Lied von Synje Norland laufen.
    The Loud Scream.
    Fast begann sie wieder zu heulen.
    Sie kramte aus ihrer Lederjacke die Zigaretten hervor, zündete eine an, hielt sie sich vors Gesicht, öffnete das Fenster und drückte sie in einem der Blumentöpfe aus, ohne richtig daran gezogen zu haben.
    Regen peitschte wild in den Raum und benetzte ihr das Gesicht. Sie ließ es geschehen und stand eine Weile still da, bis die Kälte an ihren noch nassen Haaren zerrte.
    Flink schloss sie das Fenster wieder.
    Fröstelte.
    Sah sich an.
    Seufzte.
    Ja, dies war ihr Zuhause. Ihr Refugium. Ihr Zufluchtsort vor der Welt.
    Die Wohnung, in der sie viel zu oft wie eine Schiffbrüchige strandete.
    Das war ihr Leben.
    Jetzt.
    Gedankenverloren lief sie in der Wohnung auf und ab, wie ein Panther im Käfig.
    Immer im Kreis, allzeit umher.
    Ihre kleine Dachgeschosswohnung, hier war sie, der Ort, wo alles noch so war wie immer.
    Auf dem Tisch vor dem Balkon türmten sich Schnittmuster und Stoffe. Auf dem Boden, zwischen den Klamotten
und schmutzigen Tassen, lagen Bücher über die Mode der Zwanzigerjahre und jede Menge zerknüllte Zettel, auf denen sie sich gekritzelte Notizen gemacht hatte.
    Vermengt mit ihren Schulsachen, lagen dort Skizzen, die das Bühnenbild von Rosenrot erkennen ließen. Die Handlung des Märchens war ins Berlin der Zwanzigerjahre verlegt worden (was der Regisseur für einen bahnbrechenden Einfall hielt), und Vesper arbeitete hier an der Garderobe für den schönen Prinzen, der später in eine Bärenkreatur verwandelt wird (feine dunkle Gehröcke, hohe Zylinder und breite Sakkos mit gepolsterten Schultern, die den kleinen Schauspieler betont maskulin und attraktiv erscheinen ließen). Rosenrot und Schneeweißchen, zwei arme Mädchen vom Prenzlauer Berg, trugen am Ende des Stückes und in einigen Traumsequenzen elegante Hosenanzüge, die sie wie Marlene Dietrich aussehen lassen sollten. Nicht einmal begonnen hatte sie mit den knielangen Kleidern, die kaum mehr als halbfertige Gebilde aus Seidenfasern und Glasperlen waren. Zwei Stirnbänder und drei luxuriös wirkende Boas hingen über dem Stuhl neben der alten Pfaff-Pedal-Nähmaschine aus den späten Dreißigerjahren, auf der Vesper seit Jahren schon bevorzugt nähte.
    Sie hatte sich Inglourious Basterds angeschaut und ihre Inspiration gefunden. So sollten die Kostüme aussehen. Altmodisch und dennoch cool und zeitgemäß, richtig Vintage irgendwie.
    Sie berührte die feinen Stoffe, ließ sie sanft durch die Finger gleiten. Sie mochte die Arbeit am Theater so sehr,
ein Vermächtnis ihres Vaters. Es war nicht das, was sich ihre Eltern für sie erhofft hatten, aber wen kümmerte das schon?
    Vesper seufzte leise.
    Sie betrachtete die schrägen Regale, aus denen die Bücher und zerfledderten Zeitschriften quollen - die Glamour neben dem Filmdienst , T. C. Boyle und Michael Chabon neben Thea von Harbou und Rainer Maria Rilke -, und den offenen bunten Schrank, der den Blick freigab auf einen Berg ungeordneter Kleidungsstücke, die in einem Haufen den Boden bedeckten. In der winzigen Küche stapelten sich die Kaffeetassen und ungewaschenen Teller, und ein Korb mit gewaschener Wäsche stand mitten im Korridor.
    An den hohen Wänden hingen die gerahmten Filmplakate von Metropolis und Der Kongress tanzt , dazu ein Bild von Lilian

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