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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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fiel Vesper etwas auf, was ihrer Furcht Nahrung gab: Die anderen im Bahnhof umhereilenden Passanten schienen die etwas unscharfe Gestalt kaum zu beachten. Die Leute machten Gesichter, als ließe sie etwas frösteln, und traten zur Seite, um ihn durchzulassen. Es sah aus, als streife sie die Erinnerung an kindliche Albträume, aber keiner von ihnen drehte sich nach dem Mann um,
der auch hier, im grellen Licht der Neonröhren, kaum mehr als ein Schemen war, nicht Mensch, nicht Wolf, nur ein eben erwachtes Ding aus einem bösen Traum. Er floss wie eine geflüsterte Drohung durch die Lücken in dem Menschenmeer und kam auf sie zu, unaufhörlich.
    Die Fahrplananzeige flackerte.
    Der Intercity Altona würde in dreißig Sekunden nach München abfahren.
    Vesper lief den Bahnsteig entlang, obwohl ihr die Füße wehtaten, während überall Menschen in den Zug einstiegen, Koffer schleppten und sich hektisch und rücksichtslos gebärdeten. Die Schaffner standen teilnahmslos in der Menge und warteten darauf, endlich den Zug besteigen zu können.
    Und ihr Verfolger?
    Sie konnte ihn erkennen.
    Der Gesichtslose war jetzt ebenfalls auf dem Bahnsteig. Er glitt durch die Trauben von Reisenden und ließ nicht von ihr ab. Definitiv trug er keinen Mantel mit Silberknöpfen.
    Vesper lief weiter, zwängte sich durch die Menge, bis der Zug kurz vor der Abfahrt war.
    Sie sprang durch die nächste Türöffnung und kam für Sekundenbruchteile zur Ruhe.
    Das nervige Piepsen erklang überall im Zug, und die fluchenden Reisenden schoben ihr sperriges Gepäck durch die Gänge. Eine sterile Stimme kündigte die Abfahrt an.
    Jetzt!

    Vesper warf schnell einen Blick nach draußen auf den Bahnsteig.
    Der Gesichtslose war fort. Jedenfalls war er nicht mehr zu sehen.
    Doch Vesper atmete nicht auf, nein, noch nicht. Der Gesichtslose, dessen war sie sich sicher, war weiter vorn in den Zug eingestiegen. Konnte es also sein, dass ihr Plan tatsächlich aufging?
    Bevor die Tür sich endgültig schloss, schlüpfte Vesper wieder nach draußen. Sie strauchelte, stolperte gegen einen Passanten, der sie wütend von sich stieß, erlangte die Balance zurück, kam zum Stehen.
    Ohne abzuwarten, lief sie auf die nächste Treppe zu. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie erklomm die vielen Stufen, so schnell es ihr möglich war, und warf schließlich einen Blick zurück.
    Der Gesichtslose war nicht auf dem Bahnsteig.
    Keuchend hielt sie sich am Geländer fest. Starrte auf den Bahnsteig unter sich.
    Der Zug fuhr weiter, und während sich die Reisenden auf dem Bahnsteig in den Fenstern des fahrenden Zuges spiegelten, erkannte sie den ausgefransten und schwarzen Schemen des Gesichtslosen hinter einem der Fenster.
    Der böse Wolf war erst einmal fort.
    »Gute Reise«, murmelte Vesper und schnappte nach Luft.
    So verließ sie den Bahnhof.
    So entkam sie dem Wolf.
    Allein, erschöpft und besinnungslos vor Angst, kehrte sie eine halbe Stunde später in ihre kleine Wohnung zurück.
Wie benommen nahm sie die Post aus dem Briefkasten, schlurfte die enge Treppe hinauf, hörte die hölzernen Stufen knarren und betrat ihr Zuhause hoch oben unter dem Dach. Sie ging zur Heizung unter dem Fenster, das voller verlorener Regentropfenrinnsale war, sank erschöpft zu Boden und umschlang die angewinkelten Beine mit den Armen, ganz fest.
    Vesper Gold verharrte dort, bis die Nacht hereinbrach. Sie zitterte, verzweifelte, und als es draußen zu schneien begann, da zerbrach das Eismeer in ihren Augen endlich zu heißen, bitteren Tränen.

Eine verwehte Spur aus Rosenstaub
    E s gibt Augenblicke, in denen bleibt einem keine einzige Lüge mehr, hinter der man sich verstecken kann. Die bitter schmeckenden Gewissheiten des Lebens verbergen sich nicht länger in dem Versteck, das man ihnen mühsam geschaffen hat. Sie stehen aufrecht da und neigen den Blick nicht länger zu Boden. Die Worte aus ihrem Mund sind klar und schneidend, und es gibt nichts, was dann noch Trost zu spenden vermag.
    Vesper Gold wurde dieser schmerzhaften Gewissheit ihres jungen Lebens durch ein Meer von Tränen gewahr, als sie erschöpft in ihrer kleinen Wohnung kauerte und vor Verwirrung und Trauer kaum einen Gedanken fassen konnte. Sie betrachtete schluchzend all die Bilder, die sich so lange schon in ihr aufgestaut hatten. Vesper weinte und spürte den Schmerz, der ihr Herz, Zuversicht und Glauben gleichsam zu zerreißen drohte.
    »Warum?«, fragte sie sich.
    Wieder und wieder und immer nur wieder.

    Denn sie wusste jetzt, wie

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