Grimm - Roman
normalerweise nicht passierten, häuften sich.
Sie hatte keine Ahnung, was hier los war, aber sie hatte Angst. Denn insgeheim fragte sie sich, wie zufällig all diese Zufälle eintreten konnten und wie lange es dauern mochte, bis die Gesichter aus den Schatten treten würden, um zu tun, was immer sie auch im Schilde führten.
Sie lief den Baumwall hinauf, dann ein Stück am Binnenhafen entlang, wo sich zu dieser Uhrzeit nur noch wenige Touristen - und erst recht keine Kinder - herumtrieben. Die Gegend, die sie betrat, wurde schneller, als man blinzeln konnte, zu einem Stadtbild, wie es sich wohl vor hundert Jahren schon einem Wanderer gezeigt hatte.
Nicht lange, und sie erreichte ihr Ziel.
In einem der vielen althamburgischen Bürgerhäuser, die sich in dieser Gegend dicht aneinanderreihten, befand sich das Hotel Zum Seepferdchen . Genau dorthin zog es Vesper, dort gedachte sie die Nacht zu verbringen.
Sie betrachtete das bunte Seepferdchen, das über dem Eingang baumelte und wie die Meerestiere auf den alten Seekarten aussah; wie jene Kreaturen, die dort an den ausgefransten Rändern der Welt lebten, wo das Land, noch unerforscht, von den Seefahrern und ihren Kartografen mit der vielsagenden Bezeichnung Hier seyen Drachen bedacht worden war. Sie dachte an die alten Märchen ihrer Kindheit und den Wolf - und mit einem Mal kroch ihr die Angst in Augen und Herz.
Schnell trat sie auf die Tür zu.
Im Schatten des Seepferdchens klingelte sie, und es dauerte nicht lange und ein erstaunter Mischa Lohse öffnete ihr die Tür.
»Vesper Gold?« Er war unrasiert, hatte die langen schwarzen Haare zu einem dichten Zopf gebunden. Ihre Uschi ! Die wachsamen blauen Augen starrten sie durch eine altmodische Randbrille an. »Was verschlägt dich denn hierher?« Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck I will rock YOU! und ein dickes Flanellhemd, das er nicht zugeknöpft hatte.
»Ja. Sieht aus wie ich«, entgegnete sie trocken und betrachtete ihr müdes Bild im Spiegel hinter ihm.
Er warf einen Blick auf die Uhr. »Was führt dich hierher? Hab ich’ne Probe verpennt?« Er war wirklich cool, ein richtiger Schauspieler.
Auch das, hatte Ida ihr eingeschärft, ist ein Merkmal der Uschis. Sie sehen auf den ersten Blick nicht wie Uschis aus.
Vesper schüttelte den Kopf. »Meine Eltern sind beide gestorben, und der böse Wolf ist hinter mir her.« Sie brachte die Worte über die Lippen, ohne zu stocken, und dabei hätte sie beinah lauthals losgelacht, weil kein Mensch in ihrer Situation so etwas sagen würde. »Ich brauche eine Unterkunft für die Nacht. Kein Scheiß.«
»Oh, Vesper-Baby.« Er trat auf sie zu, nahm sie kurz in den Arm, ließ sie wieder los. »Du machst Sachen.« Dann ließ er sie eintreten. »Ist das … ist das alles? Ich meine, du brauchst nur ein Zimmer?«
Sie lächelte. »Ist das nicht genug?«
»Als wir uns vorgestern gesehen haben, da hattest du noch eine Wohnung.«
»Ich muss woanders übernachten.«
Er überlegte kurz, nickte dann. »Keine Fragen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du sagst es. Ich will nur schlafen.«
»Okay, also keine Fragen.«
Er kramte hinter der Rezeption in einem Wandschrank herum. »Die Welt ist völlig durchgedreht«, sagte er und deutete zu dem Fernseher hinter sich. »Kinder schlafen ein, einfach so. Eben ist es schon wieder passiert. Kannst du mir sagen, was das soll?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich habe es gesehen.«
»Puh, ganz schön gruselig, sag ich dir. Hast du die Nachrichten gesehen? In der letzten Nacht hatten alle Eltern den gleichen Traum. Behaupten jedenfalls die Medien. Kannst du dir das vorstellen? Überall in Europa. Meine Güte, hast du eine Ahnung, wie viele Menschen das sind? Müssen Millionen von Eltern sein, da draußen. Wie soll denn so was funktionieren?«
Vesper sagte nur: »Ich weiß es nicht.«
»Na ja, meine Schwester hat auch ein Kind. Die sind seit gestern vollkommen im Eimer.« Mischa fand, wonach er gesucht hatte. »Hier ist jedenfalls der Schlüssel.« Er hielt ihn ihr hin. »Nummer 18 ist frei. Mit Blick aufs Fleet.« Die hellen blauen Augen, die so viele junge Tänzerinnen in Windeseile ganz schwach werden ließen, waren ernst geworden. »Du musst nix zahlen. Nummer 18 wurde vor
einer Stunde erst storniert. Hängt irgendwo im dichten Schneetreiben fest, wer immer dort absteigen wollte.«
»Klasse.« Sie meinte es, wie sie es sagte.
»Du kennst mich«, grinste er, »ich helfe gerne jungen Mädchen.«
Sie nahm den Schlüssel.
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