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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Schenkte ihm ein Lächeln, das ehrlich war und alles, was sie derzeit zu geben hatte.
    »Vesper-Baby?«
    »Ja?«
    »Du siehst nicht gut aus. Ehrlich.«
    Sie zuckte die Schultern. »Besser, als ich mich fühle, kannst du mir glauben.«
    »Glaub ich dir aufs Wort.« Er stand irgendwie ratlos herum. »Das mit deinen Eltern war kein Scheiß, was?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ist die Wahrheit.«
    »Oh, Mann.« Er zischte durch die Zähne. »Tut mir leid, echt.«
    »Danke, dass ich hier schlafen kann.«
    »Du musst um acht Uhr raus«, gab er ihr mit auf den Weg.
    »Ist gut.«
    Er zwinkerte ihr zu. »Den Aufzug würde ich nicht nehmen.«
    Sie ging durchs Treppenhaus nach oben. Mischa konnte wirklich schweigen, wenn es sein musste. Er tat das nicht oft, aber heute gelang es ihm. Alles andere war im Augenblick egal.
    Wie gesagt - man konnte sich auf ihn verlassen, solange man nicht mit ihm zusammen war.

    Leise wie auf Katzenpfoten schlich sie durch den Korridor, fand das Zimmer, schloss auf.
    »Willkommen daheim«, flüsterte sie, und es klang verzweifelter, als ihr lieb war.
    Sie trat ein.
    Hielt inne.
    This is the beginning.
    Das Zimmer war klein und roch nach Staubsauger und Teppichboden. Mattes Licht fiel durch das Fenster und überzog das schmale Bett und den Sessel mit Schattenpunkten, die irgendwo in der Nacht da draußen Schneeflocken waren. Sie ließ das Licht aus, schloss die Tür hinter sich, ließ den Rucksack auf den Boden fallen.
    Vesper kam sich vor wie eine Verdächtige auf der Flucht, was sie ja eigentlich auch war.
    Arriving on a thursday,
    walking down the streets.
    Sie ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen. Sie lauschte auf ihren Atem und auf die Musik der finsteren Winternacht, die sich hinter dem geschlossenen Fenster auftat, dort unten über dem Fleet und der Stadt, die immer mehr zu einem bösen Märchenwald wurde.
    Durch das Geflecht von Schatten und dumpfen Geräuschen, die von der Stadt in die Nacht gewebt wurden, kehrten ihre Gedanken in die hellen Jahre ihrer Kindheit zurück.
    Bilder wie aus einem Fotoalbum gaukelten sie ihr vor, durchtränkt von Kinderlachen und Ballspielen auf einer Wiese. Vesper war nicht allein, nein, ihre Schwester war
bei ihr. Sie spielten und stritten miteinander, und am Abend las Amalia ihr Geschichten vor. Das Haus war vollgestopft gewesen mit Büchern. Regalwände voller dicker Wälzer, Ablagen, die unter der Last der Drehbücher und Entwürfe ächzten. Überall verbargen sich Geschichten. Manchmal, wenn niemand zu Hause war, stahlen sich die beiden Mädchen in das Arbeitszimmer von Maxime Gold, was ihnen, das sei kurz angemerkt, strengstens verboten war, und zogen vorsichtig eines der wirklich alten Bücher aus den Regalen. Nicht selten mussten sie den feinen Staub vom oberen Schnitt pusten und Spinnweben fortstreichen. Doch dann, wenn sie fertig waren, ließen sie sich an einem gemütlichen Platz nieder, und Amalia begann der kleinen Vesper vorzulesen. Es waren immer wieder andere Geschichten, doch alle handelten sie von Prinzessinnen, die mutig waren, und Schneiderinnen, die verwegen gegen böse Wesen kämpften, und Königinnen, die ihre Kinder befreiten. Vesper wusste, dass Amalia ihr diese Geschichten mitnichten so erzählte, wie sie in den Büchern aufgeschrieben waren.
    »Das wäre zu dumm«, pflegte sie zu sagen und ihr dabei über die Wange zu streichen, »denn die Geschichten handeln immer nur von mutigen Männern, aber niemals von mutigen Frauen.«
    »Warum sind Mädchen nicht mutig?«
    Amalia lächelte dann wissend. »Sie sind nur in den Geschichten nicht mutig, kleine Schwester.« Sie hob den Zeigefinger, machte ein vielsagendes Gesicht und grinste. »Im wahren Leben, musst du wissen, sind es die Mädchen,
die zu Heldinnen werden, und die Frauen, die sind immer am mutigsten. Das darfst du niemals vergessen.«
    »Warum steht es denn nicht so in den Geschichten?«
    »Die Geschichten wurden von Männern geschrieben.«
    »Dummen Männern?«
    »Nein, sie waren klug. Aber es waren Männer.«
    »Aber sie haben gelogen.«
    »Mit voller Absicht.«
    Vesper hatte genickt, obwohl sie nicht wirklich verstanden hatte, was ihre Schwester ihr hatte sagen wollen.
    »Aber das mit den Männern ist nicht so wichtig«, fuhr Amalia fort. »Denn es gibt etwas viel, viel Wichtigeres, was du beachten musst.«
    »Was denn?«
    »Manche Geschichten«, warnte sie Amalia, »sind sehr gefährlich. Deswegen kann man sie nur anders erzählen.«
    »Wie meinst du

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