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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Weg.
     
     
     
    Mischa Lohse war Schauspieler, die Zweitbesetzung des Fortinbras im Thalia Theater , und im letzten Herbstprogramm - das erzählte er wirklich jedem - hatte er die Vogelscheuche im Zauberer von Oz gegeben. Neben seinem derzeitigen Dauerengagement am Thalia Theater und mehr als nur gelegentlichen im Theater am Fleet arbeitete er als Nachtportier in einem kleinen Hotel drüben in der von Gassen und Fleeten durchzogenen Altstadt, direkt am Nikolaifleet in der Deichstraße. Er war ein netter Hallodri, ein Künstler, für den es keine Regeln und keine Norm gab. Am Theater machte er sich an alles heran, was weiblich und gutaussehend war. Ja, Mischa war ein netter Kerl, etwas verrückt, aber in Ordnung; jemand, auf den man sich verlassen konnte, wenn man nicht mit ihm zusammen war. Er war immer zu Scherzen aufgelegt und gut für ein Gespräch; die Sorte Mann, die einem das Gefühl gibt, ein gutes Leben zu führen, allein schon deshalb, weil einem bewusst wird, wie unnötig dreckig es anderen mit ihren hausgemachten Problemen und Neurosen geht.
    Sie musste schmunzeln.

    Bei ihrer ersten Begegnung vor vier Monaten hatte nur eine einzige Tasse Kaffee in der Kantine des Theaters ausgereicht, um ihn die Leidensgeschichte seines jungen und harten Schauspieler- und Sängerlebens vor ihr ausbreiten zu lassen.
    Später hatte sie Ida davon berichtet.
    Du musst dich vor ihm in Acht nehmen, hatte Ida sie gewarnt.
    Warum?
    Er ist eine Uschi.
    Eine Uschi?
    Ida hatte gelacht. Männer, die wehleidig sind und andauernd jammern. Ich nenne sie die Uschis.
    Vesper hatte sich den Ratschlag zu Herzen genommen. Sie hatte Mischa, ihrer Uschi , bei den nächsten Treffen in der Kantine geduldig zugehört und gut zugeredet, ihn getröstet, ihm Mut gemacht. Und ihn darauf hingewiesen, dass sie erst siebzehn war.
    Ja, wenn es einen Menschen gab, der ihr vorbehaltlos helfen würde, dann war es Mischa Lohse.
    So war sie also aufgebrochen.
    Vesper war zu Fuß in die Nacht hinaus geflüchtet, bestückt nur mit einem Rucksack voll wild zusammengeworfener Habseligkeiten, ausreichend für ein bis zwei Tage woanders. Unterwegs hatte sie wieder und wieder und wirklich immer nur wieder Rusted from the Rain von Billy Talent auf ihrem iPod laufen lassen. Sie musste an das warmherzige Musikvideo denken, das sie zum ersten Mal im Club Mabuse gesehen hatte.

    I stumble through the wreckage, rusted from the rain.
    Die Schneeflocken trieben wie verlorene Träume durch die Nacht, benetzten alles mit dem Zauber einer zögerlichen Winternacht.
    There’s nothing left to salvage, no one left to blame.
    Sie hastete weiter durch die Stadt, getrieben vom knirschenden Rhythmus des Liedes, das sich ständig wiederholte. Ihr Atem formte kleine Wölkchen vor ihrem Gesicht, zerstob in der flackernden Nacht der Stadt. Es war kalt, und die Häuser, erleuchtet und hoch, waren die Bäume und das dichte Geäst eines wilden Waldes, in dem sie vom Weg abgekommen war. Haltlos und verirrt, ja, genau das war sie.
    Sie rieb sich die Augen, blinzelte ins Licht einer Neonreklame, die billigen Ramsch in einem Gemischtwarenladen anpries.
    Traurigkeit spürte sie in sich, weil sie das Video gerührt hatte.
    You hung me like a picture, rusted from the rain.
    Da war ein alter Mann in dem Video zu sehen, ein alter Mann, der auf dem Schrottplatz, wo er wohl lebte, aus all dem Müll und Unrat ein Kinderkarussell zusammenschweißte; ja, das hatte sie berührt.
    Go on crush me like a flower, rusted from the rain.
    Come on strip me of my power, beat me with your chains.
    Warum sie diesen Song ausgerechnet heute hörte, wusste sie nicht. Ob es überhaupt eine gute Idee war, mit den Kopfhörern in den Ohren durch die Nacht zu laufen, konnte sie ebenso wenig sagen. Sicherlich hätte sie einen
Verfolger besser bemerkt, wäre da keine Musik gewesen, die sie auf andere Gedanken brachte.
    Oh the sun will shine again.
    I’m rusted from the rain.
    Doch sie musste es einfach tun, die Melodie des Liedes blendete die Welt da draußen ein wenig aus; sie machte aus der nächtlichen Stadt mit ihren funkelnden Lichtern und wabernden Abgasen und leicht verschwommenen Träumen eine bis zur Unkenntlichkeit entrückte Illusion, durch die sie sich bewegte wie eine Wanderin, die niemals dort ankommen will, wo sie hinläuft.
    Hüte dich vor den Wölfen .
    Sie schauderte.
    Und dem, was ihnen folgt.
    Zu ihrer Rechten konnte sie in der Ferne einige kleine Barkassen im Binnenhafen erkennen. In Richtung Zollhafen

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