Grimm - Roman
unkontrolliert. Er spürte nagende Furcht und Verzweiflung, doch nichts davon half.
Auf der anderen Seite des Zaunes versank Alexander in einem Meer aus schwarzen Fellleibern.
»Noch immer rief er nach mir.«
Sie umringten ihn, zogen ihn vom Zaun fort. Mit letzter Kraft noch hielt er sich an dem Maschendraht fest. Leander starrte auf den dünnen Arm, der aus dem Rudel der Wolfsleiber herausragte.
»Die kleinen Finger waren ganz weiß.«
Die Finger, die sich festkrallten, die weit aufgerissenen Augen, die Schreie, die Tränen.
Hilf mir!, flehte der Kleine.
Und Leander rief seinen Namen.
»Ich berührte seine Hand, sie war so kalt.«
Dann löste sich sein Griff, und das Wolfsrudel nahm ihn mit sich. Die Wölfe auf dem Schulhof ließen von Leander ab und trabten fort, so schnell, als habe es sie nie
gegeben. Ein kalter Wind kam auf und verwehte die vielen Wolfsspuren im Schnee. Die Handschuhe, die eben noch oben am Zaun hingen, fielen zu Boden und wurden über die Straße geweht.
Leander schrie.
Den Namen seines kleinen Bruders, immer und immer wieder.
Mit zittrigen Händen und Beinen kletterte er über den Zaun und fiel auf der anderen Seite unsanft in den Schnee.
Die Wölfe, das hatte er gesehen, waren in einer Straße verschwunden. Aus der Ferne trug der Wind ihr Heulen herüber zur Schule, als wolle das Rudel den verlorenen Bruder verhöhnen. Dazwischen erklangen die klagenden Schreie des kleinen Jungen, der seinem großen Bruder vertraut hatte.
Leander rannte ihnen nach, bis ihm der Atem in der Kehle brannte. Er lief und lief. Kopflos und wie von Sinnen lief er durch die Straßen, weinte, schluchzte, war durcheinander. Die Wasserspeier lachten ihn aus, und ihre hämischen Fratzen kannten keine Gnade. Die Straßenlaternen neigten die Häupter, und der Schnee, so weiß, so dicht, war wie die Tränen, die ihm im Gesicht gefroren.
»Ich rannte dem Heulen hinterher, weil ich nicht anhalten konnte.«
Schließlich ging er vor Erschöpfung in die Knie.
Alexander, flüsterte er.
Das Heulen war jetzt der Wind, und der Wind war allein und ohne Wölfe und ohne den kleinen Jungen.
»Sie haben ihn mitgenommen.«
Vesper schluckte. Sie spürte, wie die Tränen ihr heiß in den Augen brannten, und war froh, dass es dunkel in der Schiffskabine war.
»All die Jahre blieb er verschwunden, es gab nicht eine einzige Spur.«
Der Rest dieses einen Tages glich einem Albtraum, der schlimmer nicht hätte sein können.
Leander ging nach Hause und erzählte die Geschichte von den Wölfen. Seine Eltern waren entsetzt. Sie riefen die Polizei. Das Schulgelände wurde untersucht, man leitete eine landesweite Suche ein. Überall sah man Alexanders Bild in den Nachrichten, doch niemand konnte Hinweise auf seinen Verbleib geben. Er blieb verschwunden.
»Sie haben dir nicht geglaubt.«
»Ich wurde untersucht. Ein Psychologe nahm sich meiner an.«
Er erzählte von den Wölfen und dem, was geschehen war.
»Es hatten sich keine Wolfsspuren im Schnee gefunden, nichts.«
Alles, was sie hatten, war die Phantasie eines Jungen.
»Und jetzt glaubst du, dass dein Bruder noch lebt.«
»Der Menschenwolf hat es gesagt.«
»Du glaubst ihm?«
»Ich weiß es nicht. Ich würde es gern glauben. Aber es könnte ebenso eine Falle sein. Alexander wäre heute achtzehn Jahre alt.«
Vesper schwieg.
»Die Wölfe haben mir damals mein Leben genommen.«
Nachdem Alexander verschwunden blieb, ließen sich Leanders Eltern ganz plötzlich scheiden. Schreie hallten durch das Haus, bittere Vorwürfe, Bosheiten wie Messerstiche.
»Wenn sie wütend waren, dann sprachen sie von den Wölfen, als würden sie meiner Geschichte Glauben schenken.«
So jedenfalls endete es. Leander lebte fortan bei seinem Vater. Die Vorwürfe, die ihm seine Mutter gemacht hatte, ließen ihn nicht länger den Kontakt zu ihr suchen.
Sie zogen an den Rhein, nach Köln, wo Leander zwei Jahre verbrachte, bis er nach England ging.
»Hier hielt mich nichts mehr.«
Die Nacht war dunkel geworden, da draußen.
Vesper begann instinktiv zu verstehen, was sich zugetragen hatte. »Deswegen konntest du ihn sehen. Den Menschenwolf, meine ich.«
»Ja. Ich habe an ihn geglaubt. All die Jahre habe ich versucht mir einzureden, dass er eine Einbildung war. Dass es die Wölfe nie gegeben hat. Alle diese verrückten Psychologen, die ich besuchen musste, haben es mir einzureden versucht.« Er seufzte. »Es war eine Erleichterung, diesen Menschenwolf zu sehen. Es war die Bestätigung, dass
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