Grimm - Roman
mit mir alles in Ordnung ist.«
Vesper schwieg. »Vielleicht«, flüsterte sie erst nach einer Weile, »sehen so viele Menschen deswegen nicht, was wirklich um sie herum geschieht.«
Die Antwort jedenfalls verbarg sich in der Stille, die sie beide in der Enge des Schiffs umgab. Da war nur ihrer beider leiser Herzschlag, zweimal tief in kalter, dunkler Nacht.
Schließlich, als sie es nicht mehr aushielt, kroch Vesper wortlos zu Leander ins Bett. Sie schmiegte sich einfach nur an ihn und ließ sich von ihm umarmen. Wie im Märchen waren sie einander vertraut, und keiner von ihnen schaute zurück, und keiner schaute nach vorn. Die Nacht wurde unverhofft und plötzlich zu nur diesem einen hellen Augenblick, der ganz hier und ganz jetzt war. Auch Leander schwieg. Stumm sah er sie an, und dann ließ er sich von ihr küssen, erst langsam und zögerlich. Seine Lippen waren ganz warm und weich, und sein Atem roch irgendwie nach Apfel, aber das konnte auch Einbildung sein. Am Ende war es Vesper egal. Es tat gut, in all diesen Küssen, die viel mehr als nur ein Hauch waren, zu versinken. Es war richtig, was sie taten. Es war das, was sie jetzt und hier tun wollten. Denn Vesper konnte nichts mehr sagen, und auch Leander hatte all seine Worte bereits aufgebraucht. Wie wehende Tücher aus leuchtendem Weiß im Wind, so schliefen sie schließlich ein. Nicht ahnend, wie schön und wie endlos die Nacht sein kann, wenn sie gerade erst über die Welt gekommen ist.
Von Geschichten und Geheimnissen
D as sanfte Schaukeln des Schiffes weckte Vesper am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen war. Sie blinzelte in das Dämmerlicht hinaus, wo es kalt war und die Geräusche noch gedämpft. Sie hatte traumlos geschlafen - oder erinnerte sich nur nicht mehr an den Traum, der sie in seinen Fängen gehalten hatte. Eigentlich musste sie geträumt haben, denn sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft, und der Schatten einer Furcht, die Schlafende manchmal befällt, war in ihr wie der leise Geschmack nach Versprechen, die jemand, den sie schon lange vergessen hatte, nicht hatte einhalten können.
Sie betrachtete Leander, der neben ihr lag. Er war so nett; etwas seltsam, aber sie war froh, dass er da war.
Das Leben konnte wirklich ein Schuft sein. Ein richtiger Schuft, der einem in Windeseile das Herz durcheinanderbringen konnte.
Sie setzte sich vorsichtig, ohne ihn zu wecken, im Bett auf. Sie berührte sein Haar, und dann ging sie zum Fenster
und beobachtete müde eine ganze Weile lang die Schiffe, die in aller Frühe bereits die Elbe befuhren. Einige Eisbrecher quälten sich an den Kaimauern vorbei, wo sich zwischen den vor Anker liegenden Schiffen schon eine feine Eisschicht gebildet hatte. Die Taue, mit denen die Schiffe an den Kais festgemacht waren, glänzten vor Frost und waren weiß besprenkelt mit Reif und Schnee.
Drüben am anderen Elbufer glommen Positionslichter wie ferne Rufe von Gestrandeten. Und unten vom Kai her hörte sie gedämpft durchs Fenster die Rufe der Hafenarbeiter, die das bullige Feuerschiff vom Anleger nebenan flottzumachen gedachten.
Schnee rann wie Regen am Fenster hinab. Vesper berührte das Glas, es war kalt.
»Woran denkst du?«
Sie schrak aus ihren Gedanken auf. »Du bist wach?« Sie trug noch immer sein Hemd, die oberen vier Knöpfe offen. Dazu die Socken. Schon wieder kam sie sich ertappt vor.
»Wach?« Er gähnte. »Nicht wirklich.«
»Hast du mich beobachtet?«
Er rieb sich die Augen. »Ich habe gesehen, wie du aus dem Fenster geschaut hast.«
»Konntest du schlafen?«, fragte sie.
Er setzte sich auf die Bettkastenkante, ließ die Füße baumeln. »Und du?«
Sie zog ein Gesicht. »Ich weiß nicht.« Ein Lächeln, vielsagend und dennoch verwirrt.
Leander stand langsam auf, räkelte sich, tapste zum Radio, schaltete es ein. »Musik, Musik, Musik, ohne die geht wirklich gar nichts an einem Morgen wie diesem«, murmelte er verschlafen und blinzelte, während seine Hände auf der Anrichte aus dunklem Holz nach seiner Brille suchten. Als er sie gefunden hatte, setzte er sie auf und sah damit gleich noch verpennter aus.
Im Radio lief Fairytale Gone Bad von Sunrise Avenue.
»Kann der Tag besser beginnen?«, fragte er sich.
Vesper wusste es nicht.
Sie war durcheinander.
Hier aufzuwachen, in dieser Kabine, auf diesem Schiff, neben diesem Jungen; das geschah alles so schnell und so unkontrolliert. Bei Tageslicht sahen die Dinge immer ein wenig anders aus.
Leander kam zu ihr und küsste
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