Grimm - Roman
sie auf den Mund. Vesper vergrub ihre Finger in seinem strubbeligen Haar und hielt ihn ein wenig länger bei sich, als er erwartet hatte.
»Das war kein Traum, oder?«, flüsterte sie nur.
Er schüttelte den Kopf.
Sie sagte: »Gut.«
Dann: »Und was passiert jetzt?«
Leander deutete mit einem Kopfnicken zum Bad. »Du zuerst, oder darf ich?«
Vesper musste still lächeln, dann schlug sie ihm scherzhaft auf die Schulter. »Idiot!« Er konnte wirklich überaus höflich sein. »Du zuerst«, sagte sie. »Mach schnell.«
Also schnappte er sich seine Klamotten und tapste ins Bad. Erneut gähnte er dabei und zupfte sich die noch
nicht zur Tolle herangestylte Strähne des dunklen, widerspenstigen Haars aus dem Gesicht. Mit einem Klicken schloss sich die Tür hinter ihm.
Vesper hörte die Dusche rauschen und Leander singen.
Als er nach fünf Minuten aus dem Bad kam, sah er aus wie die Punkversion eines jungen Gelehrten aus einem Vierzigerjahre-Abenteuerfilm. Sein Haar stand wild nach allen Seiten ab, wenngleich die Tolle, die ihm in die hohe Stirn fiel, jetzt immerhin eine Frisur erahnen ließ.
»So!« Er klatschte in die Hände. »Jetzt ein Frühstück, und der Tag kann uns nichts mehr anhaben.« Er wirkte fröhlich und beschwingt, zu allem bereit.
»Ich geh ins Bad«, verkündete Vesper. Sie sammelte ihr Zeug ein - saubere Klamotten und Krimskrams aus ihrem Rucksack - und stakste durch den Raum.
»Ich hol uns Frühstück«, sagte Leander und wartete eine Reaktion ihrerseits ab.
»Klasse, danke, wäre toll.«
Er nickte, sah ihr hinterher.
Als Vesper die Tür im Bad hinter sich schloss, konnte sie sich ein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. Leander hatte doch tatsächlich auf ihre Beine gestarrt, als sie sich an ihm vorbeigedrückt hatte. Sie begutachtete sich im Spiegel, und das Gesicht, das ihr entgegenblickte, war … okay.
Draußen hörte sie die Kabinentür zuschnappen. Der Schlüssel drehte sich mit einem lauten Geräusch, er hatte also abgeschlossen. Gut so.
Vesper pinkelte, duschte, zog sich an.
Die matten Erinnerungen an das, was sie erlebt hatte, kehrten Stück für Stück zurück. Mit all der Heftigkeit, die Gedanken, die einem am Morgen kommen, zu eigen ist, sah sie das Gesicht ihrer Mutter vor sich. Seltsamerweise war Maxime bei ihr, und irgendwo, das wusste Vesper, war auch Amalia.
Sie rieb sich die Augen.
Atmete tief durch.
»Es ist vorbei«, sagte sie laut.
Denn wenn man Dinge laut sagt, das wusste sie, dann können sie einem nichts mehr anhaben.
Sie schminkte sich dezent und begann sich langsam wieder wie ein Mensch zu fühlen. Sie dachte an die vergangene Nacht und an Leander Nachtsheim, an die Berührungen und Küsse.
Sie seufzte, glücklich und betrübt zugleich. Sie hatte keine Ahnung, wohin das alles führen würde. Aber im Moment war es gut so, wie es war. Bei den Jungs, mit denen sie bisher zusammen gewesen war, hatte sie sich noch nie so gefühlt wie jetzt. Gestern Nacht war es anders gewesen. Dabei wusste sie doch gar nicht, was nun wirklich war. Sie waren beide in den Augenblick hineingestolpert und die Gelegenheit in sie.
Egal, es war, wie es war. Warum sich Gedanken machen?
Ein erneuter Seufzer, diesmal ein wenig befreiter.
Dann trat sie aus dem Bad.
Mittlerweile liefen im Radio die letzten Takte von Ich geh auf Glas . Sie summte die letzten Zeilen mit. Sie mochte Rosenstolz.
Mit nackten Füßen schlurfte sie über den Teppichboden, schlüpfte in Jeans und T-Shirt, alles in Schwarz. Sie hockte sich im Schneidersitz aufs Bett und sah erneut nach draußen. Das Lied verebbte, während Vesper einem Lastenschlepper nachschaute, der draußen Richtung Trockendock fuhr.
Dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Stimme des Moderators gelenkt.
Er sprach von Panik in den Krankenhäusern, von Eltern, die verzweifelt waren. Rätselhafte Schlafkrankheit, so wurde das Phänomen jetzt in den Medien genannt. Die Kinder seien seit Stunden nicht mehr aufgewacht, und nach den Träumen, die die Eltern in der vergangenen Nacht gehabt hätten, gebe es kaum Hoffnung, dass die Lage sich bald entschärfen könnte.
Vesper wusste nicht, ob das alles wirklich geschah. Es klang so abgefahren, so unwirklich.
Es konnte einfach nicht sein, dass das alles wirklich passierte.
Fairytale Gone Bad.
Die Melodie des Liedes schoss ihr durch den Kopf wie ein schneller Schmerz aus Zähnen im Eis.
Dann lauschte sie weiter.
Sie erfuhr von einer Pressekonferenz, in welcher der Innenminister Stellung zur
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