Grimm - Roman
gemacht?«
»Sie haben gewispert: Wir sind hier. Seht, was wir tun können. « Ida weinte jetzt. »Ich habe sie gesehen, und dann sind sie verschwunden. Ich streckte die Hand aus und berührte mein Gesicht im Spiegel, und dann erwachte ich endlich.«
»Es war nur ein Traum«, sagte Vesper mechanisch, doch sie wusste, dass es viel mehr als das gewesen war.
»Sie sagen, dass Millionen von Menschen diesen Traum gehabt haben. Es ist überall passiert.«
»Ida«, flüsterte Vesper nur. Sie fühlte sich so nutzlos.
»Was soll ich denn tun, wenn sie nicht mehr erwacht?«
Das war die Frage, die Vesper sich nicht hatte stellen wollen.
»Was sollen wir tun, wenn keines der Kinder mehr erwacht?«
Vesper wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie die Welt dann aussehen würde.
Sie sah Greta vor sich, das helle Lachen und die baumelnden Zöpfe.
»Dazu wird es nicht kommen.«
»Sagt wer?« Sie hörte verzweifelten Trotz in der Stimme ihrer Freundin.
»Ich«, antwortete Vesper hartnäckig.
»Du? Was kannst du schon tun?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas.«
Es entstand eine Pause.
Lange.
Viel zu lange, um gut zu sein.
»Ich gehe heute nicht zur Arbeit«, sagte Ida. »Ich muss bei Greta bleiben. Ich denke, dass viele Menschen heute nicht zur Arbeit gehen.« Sie stockte, es knackte in der Verbindung. »Sie sieht so friedlich aus, wenn sie schläft. Als wäre gar nichts passiert.«
Vesper stellte sich vor, wie die Welt sich verändert hatte. Kindergärten und Schulen blieben verwaist. Viele erschienen nicht zur Arbeit. Das Leben hielt den Atem an, überall im Land.
»Ich komme zu dir«, versprach Vesper. »Irgendwie.«
»Wo bist du?«
»Ich muss mich verstecken.«
Eine weitere Pause trat ein.
»Vesper, es tut mir so leid. Ich habe gar nicht gefragt, wie es dir geht.«
»Ich habe es überlebt«, sagte sie. »Du würdest nicht glauben, was mir alles passiert ist.«
»Willst du es mir erzählen?« Sie schien froh um ein wenig Ablenkung zu sein.
»Später.«
Stille.
»Vesper?«
»Ja?«
»Sei vorsichtig. Die Welt hat sich verändert.«
Ihr fröstelte. »Gib Greta einen Kuss von mir.«
Sie hörte, wie Ida schluckte.
»Ich ruf dich an«, versprach Vesper.
Ida unterdrückte die Tränen, man hörte es durch ihr Schweigen hindurch.
»Vesper?«
»Ich bin noch da.«
»Lass mich nicht allein, hörst du?«
»Tu ich nicht.«
»Versprochen?«
Sie spürte die Träne, die ihr über die Wange lief. »Versprochen.« Dann legte sie auf und warf das Telefon vor sich aufs Bett, als habe sie sich die Finger daran verbrannt.
»Verdammt«, fluchte sie und schlug mit der Faust auf das Kopfkissen ein. Es war nicht richtig, dass so etwas passierte. »So eine Scheiße.« Sie kippte mit dem Gesicht voran aufs Bett und schrie, so laut sie konnte, ins Kopfkissen hinein, trommelte dabei mit den Fäusten auf die Matratze ein, schrie hilflos weiter und blieb endlich erschöpft liegen. Sie lauschte ihrem Atem, hob den Kopf, blickte zum Fluss hinaus. Ihr Spiegelbild sah traurig aus. Sie beschloss, es in Grund und Boden zu starren.
»Ich lass dich nicht allein«, sagte sie in den beginnenden Tag hinein. Dann klopfte es an der Tür, und ein Schlüssel wurde gedreht. Leander war wieder da, sie war nicht mehr verloren.
Sie ordnete sich die Haare, schniefte leise, rieb sich schnell die Tränen aus den Augen.
»Da draußen bricht die Hölle los«, sagte Leander und schloss die Tür hinter sich. Er ließ den Mantel aufs Bett
fallen und stellte zwei braune Papiertüten von Starbucks auf den Tisch, dazu zwei Pappbecher mit dampfendem Inhalt.
»Ich habe es im Radio gehört. Und mit Ida gesprochen.«
»Deiner Freundin?«
»Ja.«
»Was hat sie gesagt?«
Vesper berichtete ihm von dem Traum.
»Du hast Angst um sie.«
Sie nickte nur. Sie wusste, dass ihre Stimme krächzen würde, wenn sie jetzt zu reden versuchte.
Leander sah sie lange an. Dann fragte er: »Cappuccino oder Latte?«
»Ähm, Cappuccino.«
»Bitte sehr.« Er schob ihr den Becher hin.
Sie schnupperte am Dampf.
»Du hast geweint.«
»Ich bin wütend.«
»Weil du nichts tun kannst?«
Sie nickte.
»Das verstehe ich.« Er beugte sich über die Papiertüte, öffnete sie und kramte darin herum. »Aber du siehst hübsch aus, wenn du geweint hast.«
»Blödmann«, sagte sie.
»Das war nett gemeint.«
Sie funkelte ihn wütend an. »Mir ist nicht nach nett zumute. Nicht jetzt, falls es dir entgangen sein sollte.«
Er reichte ihr ein Stück gelben Kuchen. »Der
Weitere Kostenlose Bücher