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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Lage beziehen würde. Sämtliche Oberhäupter der betroffenen Staaten kämen zu einer eiligen Krisensitzung am Nachmittag in Paris zusammen, hieß es. Ganz Europa sei betroffen und man prüfe noch, wie groß das Ausmaß des rätselhaften Phänomens wirklich
sei. Die hinzugezogenen Ärzte und auch die Psychologen seien völlig ratlos. Die Kinder schliefen einfach, als sei ein Fluch über die Welt gekommen.
    Sie drehte das Radio lauter.
    Konnte nicht fassen, was sie da hörte.
    Was war nur los mit der Welt?
    Von bösen Träumen war erneut die Rede. Von etwas, was der Moderator als eine kollektive Wahnvorstellung bezeichnete. Das Gesundheitsministerium riet zu Ruhe und Besonnenheit. Den Kindern gehe es gut, so die Mediziner. Eltern, deren Kinder eingeschlafen seien, sollten unter gar keinen Umständen ein Krankenhaus aufsuchen. Es wurde empfohlen, die schlafenden Kinder zu beobachten. Darüber hinaus gab es keine Ratschläge.
    Vesper schnappte sich augenblicklich das Telefon und rief Ida an. Während es klingelte, ging sie unruhig in der Kabine auf und ab. Ihr war schwindlig, und sie hatte Angst.
    »Ida?« Endlich!
    »Sie schläft«, war alles, was Ida sagte. Ihre Stimme klang, als sei sie in weiter Ferne verschollen.
    »Meine Güte, ich habe es eben im Radio gehört.« »Es hört nicht mehr auf. Greta schläft. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist einfach so passiert, aber jetzt hört es nicht mehr auf. Wir haben gestern Abend noch gemeinsam gespielt. Halma, das liebt sie doch so. Und dann hat sie einfach so die Augen geschlossen und ist umgekippt.« Ihre Stimme klang brüchig und der Verzweiflung nahe. »Sie lag auf dem Boden und rührte sich nicht. Wie
tot. Aber sie atmete. Sie ist einfach eingeschlafen. Wie kann so was denn sein? Und weißt du was? Man bekommt nicht einen einzigen Arzt ans Telefon. Die Leitungen sind tot. Sie haben alle keine Ahnung, was jetzt passieren wird.« Leise, kümmerlich, fügte sie hinzu: »Keine Ahnung, Vesper, überhaupt keine Ahnung. All diese selbst ernannten Fachleute stehen nur herum und schauen einander Löcher ins Gesicht.«
    Vesper schluckte. Sie scheute sich davor, leeren Trost zu spenden. Sie wusste auch nicht, was zu tun war. Dabei hätte sie Ida und Greta so gern geholfen. Die Ohnmacht war am schlimmsten.
    »Was war das für ein Traum, letzte Nacht?«, fragte sie.
    »Oh Gott, der Traum.« Ida stöhnte auf. »Der Traum war das Allerschlimmste. Im Fernsehen und im Radio sagen sie, dass alle Eltern den gleichen Traum gehabt haben. Schon wieder, kannst du dir das vorstellen? Das ist doch verrückt!«
    Vesper sagte nichts. Sie versuchte sich das Ausmaß dessen vorzustellen, was da geschehen war.
    »Ich war irgendwo«, begann Ida, »in einem großen Raum. Vielleicht war es ein Schloss, ich weiß es nicht. Ein riesiger Spiegel stand dort, und ich habe in ihn hineingeschaut. Und dann hat mein Spiegelbild zu mir gesprochen, genauso wie in den andern beiden Träumen.«
    »Was hat es gesagt?«
    »Oh, Vesper, es hat mit den Stimmen von unzähligen Kindern gesprochen. Es war mein Mund, der sich zu den Worten bewegte, aber die Augen, herrje, die Augen
waren so kalt und leer und tot.« Sie begann zu weinen. »Nie und nimmer waren das meine Augen. Und dann diese Stimme, oh, diese Stimme, du kannst dir nicht vorstellen, wie sie klang. Als würden dir Tausende von Kindern gleichzeitig antworten, als würden Abertausende von Kindern am Boden eines tiefen Brunnens kauern und weinen.«
    »Was hat sie gesagt?« Vesper wusste nicht, ob sie es wirklich erfahren wollte.
    »Dein Kind gehört uns. Und dann: Wir sind hier. Seht, was wir tun können.«
    Vesper hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.
    Sie dachte an die Wölfe.
    »Und dann«, schluchzte Ida, »dann haben sie sich mir gezeigt.«
    »Wer?«
    »Sie!«
    Vesper registrierte, wie verkrampft sie das Telefon umklammerte. Ohne es so recht zu merken, war sie aufs Bett zurückgekehrt und saß nun zusammengekauert in einer Ecke.
    »Ich habe gesehen, wie mein Gesicht im Spiegel verschwand. Da war ein Wald um mich herum. Und Geräusche. Ich wollte nichts sehen, was Geräusche wie diese machte. Doch dann zeigten sie sich. Sie traten aus den Schatten, und es waren viele.«
    »Wer?«
    »Wölfe, Bären, Krähen. Zwerge, böse Hexen und Mädchen mit verdrehten Gesichtern. Da waren Riesen und
Erdgeister, ganze Häuser, die auf Vogelbeinen liefen, Knochenmänner und Irrlichter. Seltsame Wesen, die ich nicht beschreiben kann.«
    »Was haben sie

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