Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
Vom Netzwerk:
Soldaten – so gut ich konnte, aber in Gedanken war ich schon in der Mandlhütte und vollendete den Buchmanneid. Einige Wochen vergingen. Deutschland drohte eine mächtige Niederlage. Ich hieß jede Alliiertenbombe herzlich willkommen. Hauptsache, dieser verdammte Krieg fand ein Ende.
    Am 9. Mai 1945 unterzeichnete Keitel die Kapitulation, und wir Krankenständler soffen Sekt aus unseren Nachttöpfen, während wir in unseren weißen Betten gefesselt waren –keine Ahnung und keine Angst vor dem, was von den Alliierten nun kommen mochte.
    Im Grunde waren wir Gefangene in unserem eigenen Land. Im Grunde hätte man uns alle erhängen sollen. Ein viel zu gutes Los für uns Verbrecher. Wegen meiner Handverletzung und der Amnesie galt ich als unbrauchbar und verließ später das Krankenhaus als »freier« Mensch. Als Zacharias Locher und nicht mehr als Zacharias Buchmann.
    Mit den ersten Heimkehrern trat ich wieder an die Öffentlichkeit.
    In einer wiederaufgebauten Schusterei war man über meine Fähigkeiten froh. Meine Vergangenheit konnte ich gut verbergen. Ignaz’ Geschichten färbten offenbar auch auf mich ab.
    Ich fand eine Frau namens Hilde, Deine Großmutter. Meine falsche Identität hielt, nicht aber die Ehe mit ihr, wie Du weißt. Danach nahm ich die Stelle in der Druckerei Schering an und erlernte das Buchbinden.
    Das Bestiarium von Freyung, unseren Schatz, bindest Du ihn immer noch, lieber August?
    Ich baute den Wal und unsere Bibliothek, die der Mandlhütte nachempfunden war. Es sollte Antrieb sein, den Buchmanneid zu vollenden. Ein kreativer Rückzugsort. Den Rest kennst Du mehr oder weniger. Ich band Bücher. Ich las und sammelte Bücher, und ich dachte, wenn ich mich tagtäglich damit umgab und mich für sie begeisterte, wäre es mir irgendwann möglich, Ignaz’ fehlende Geschichten aufzuschreiben.
    Ganz in seinem Geiste zu vollenden, was ihm nicht vergönnt gewesen ist. Nichts schien mir wichtiger, nichts schien mir unerreichbarer, denn mir fehlte, wie sich bald herausstellte, jenes Talent.
    Jenes Talent und die Phantasie, seine Geschichten zu erzählen und ihnen den Zauber zu verleihen, den Ignaz schon als junger Bub zu verströmen in der Lage gewesen war, als sich die Kinder und Nachbarn staunend um ihn scharten und an seinen Lippen hingen, wenn er zu erzählen begann. Ich hatte keine Ahnung davon, welchen Regeln »gute Geschichten« folgen, wie das geht. Leser oder Zuhörer zu berühren, sie in das Reich der Phantasie zu entführen, ist eine Kunst, die sich nicht allein dadurch erklärt, dass jemand so zu schreiben vermag, wie es den Literaturkritikern in den Zeitungen der gebildeten Leute gefällt. Da muss ein anderer Zauber her. Du wießt es, bist ja selber einer, der sie aufsaugt, die guten, die besonderen Märchen und Geschichten.
    Mein liebster August, Dich einfach zu verlassen, vor über sechzehn Jahren, war wie das Brechen eines zweiten Schwurs, den ich Deiner Mutter geleistet hatte. Nun verlorst Du zum zweiten Mal Deine Familie. Welch schlechte Parallelen das Leben zeichnet.
    Aber die Last meiner Vergangenheit schnürte mir die Kehle zu. Meine feige Akzeptanz dieses Kriegs, obwohl mein eigener Bruder vor meinen Augen starb – dies setzte mir so zu, als hätte ich selbst Ignaz mit meiner eigenen P38 in den Kopf geschossen. Als ich meine Aufgabe Dich betreffend als abgeschlossen erachtete, musste ich dieses andere Leben endlich führen. Jenes deutungsvolle zurückgezogene Leben in den Bergen. Alleine mit mir und meinen Gedanken und mit dem Ziel, vor dem Ende meiner Tage Ignaz’ Buch doch noch zu beenden, irgendwie.
    Die Mandlhütte, sie würde Dir gefallen, August. Aber Du kennst sie ja – von unserem Gemälde im Wohnzimmer. Fast zweihundert Jahre ist sie alt. Die Blanken und Dielen sind glatt wie Leder, die Holzmöbel und jeder einzelne Gegenstand erzählen von den Menschen, die hier lebten und arbeiteten und ihre Spuren hinterlassen haben. Ich fühlte mich wie aus der Zeit gefallen. Manches musste ersetzt werden. Ich hatte große Freude daran, die Berghütte zu restaurieren. Und wie wohl das tat, den Turbulenzen der Stadt Lebewohl zu sagen. Es fiel eine Last von mir ab.
    In den ersten Nächten saß ich bei klarem Himmel auf der Bank vor der Eingangstüre der Hütte, eine gestopfte Pfeife und ein Glas Wein bei mir. Jeder funkelnde Stern, hell wie eine Nachttischlampe, blitzte und blinkte, als ob Ignaz Zeichen schickte. Meine Nachbarn waren Kiefern und Hirsche, Findlinge und Füchse, Hasen

Weitere Kostenlose Bücher