Grimms Erben
hatte diese besondere Gabe. Er war schon als Kind ein begnadeter Geschichtenerzähler. Die ganze Nachbarschaft unterhielt er mit seinen Phantastereien. Die Kinder saßen mit offenen Mündern vor ihm und träumten seine Träume. Seine Geschichten schrieb er nieder, auf Papier, das ich ihm besorgte. Sie waren Traumfänger und erzählten geheimnisvolle Abenteuer mit Wucht und Moral. Du weißt, liebster August, eine Moral muss es geben. Er hatte eine unbekümmerte, verrückte Ader. Nicht minder toll waren seine Streiche.
Ich war Ignaz’ größter Anhänger. Eigentlich wollte ich Buchverleger werden. Ein utopischer Berufswunsch.
Der Krieg, lieber August, bedurfte anderer Talente. Soldaten waren gefragt. Kämpfen sollte man. Menschen umbringen. Was für uns verwunderlich war: die Euphorie im Land. Selbst Nachbarn, Freunde, Verwandte rannten mit erhobenen Waffen letztlich ins Verderben. Ignaz und ich waren schockiert. Mutter sagte immer: »Ihr gehts nicht, und wenns mich derschlagen, ihr bleibts da.« Aufgrund unserer Arbeit in Vaters Schusterei in Freising war es anfangs möglich, den Dienst fürs Vaterland im Vaterland zu leisten. Stiefel wurden benötigt für unsere Nachbarn, Freunde, Verwandten, die ins Feld zogen und nimmer wiederkehrten.
Irgendwann kam der Befehl dann doch. Vater klammerte sich noch an seine Schusterei, daran, dass wir dort unabkömmlich seien, aber es half nichts. Dann nahm er Ignaz und mich zur Seite und drückte uns eine Fotografie in die Hände. Es zeigte, lieber August, den Ort, der auf dem Bild, das wir in unserem Wohnzimmer hängen hatten, zu sehen ist, und das wir gemeinsam so oft angesehen haben. Nach diesem Lichtbild, das ich immer an meiner Brust trug, ließ ich später das Gemälde anfertigen. Den Hirsch erdichtete ich hinzu.
So aufgeregt hatte ich unseren Vater noch nie gesehen.
»Hier, ihr Saububen, hier gehts ihr hin. Versteckts euch, bis zum heiligen Frieden. Es ist die Mandlhüttn. Die gehört meinem Onkel Hermann. Der wohnt in Grainau. D’Jagdhütten ist aber in Österreich drüben.« Er drückte mir die Telefonnummer von Onkel Hermann in die Hand, der als Arzt im Besitz eines Fernsprechapparates gewesen ist. Es war der letzte Händedruck zwischen mir und meinem Vater. Er und Mutter blieben zurück.
Also was blieb uns? Eine Flucht durch Deutschland, in der Hoffnung, eine Hütte in den Bergen zu finden und dort das Schusterhandwerk zu verrichten, falls der Krieg einmal ein Ende fände. Ich war für Träume immer empfänglich.
Ich wollte gehen.
Ignaz hatte einen anderen Plan.
Er spürte die Aussichtslosigkeit des Unterfangens und sagte mir, dass er nur einen Wunsch hege, egal, was aus ihm oder der Welt geschehen möge.
Er wolle ein Buch schreiben und seine Geschichten veröffentlichen. Als Zeichen des Widerstands. Als Zeichen seines Glauben an eine friedliche Welt.
Es sollte den Titel Grimms Erben tragen. So seine Idee.
Dieses Buch müsse zuerst erscheinen, danach komme er gerne mit nach Grainau.
Lieber August, ein Buch zu drucken ist natürlich nicht einfach, wie soll das gehen? Vor allem in einer Zeit, in der Papier nicht zur Unterhaltung bedruckt wurde.
Nun, da half wiederum das Schicksal, das uns diesbezüglich hätte auch besser treffen können. Gregor Obermaier, der Besitzer des Nachbarbauernhofs und ein Widerständler, der Ignaz’ abenteuerliche Erzählungen ab und an mit Rüben und Kartoffeln belohnte, half uns. Er kenne da einen Buchdrucker, sagte er aus. Er hieße Raffael Krupp, und »wenn ihm die Nazis noch nicht seine Lottergeschichten in Buchform in den Rachen gestopft haben, dann druckt er noch immer«. Krupp stand beim Bauern Obermaier in tiefer Schuld. Ein Vorfall in München, den er uns selbst nicht näher schilderte, war dafür verantwortlich. Und er tut hier nichts zur Sache. Jedenfalls hatte Obermaier Krupps Anschrift, nach Warschau hatte es ihn verschlagen, und seine Zusage, ihm jeden Dienst leisten zu wollen.
Eine bessere Gelegenheit, ein Buch zu drucken, gab es nirgends und niemals für uns. Und da Krupp mit seiner Druckerei gleichzeitig einen kleinen selbständigen Verlag führte, war sogar eine Veröffentlichung möglich. Es stand fest – Irrsinn oder Husarenstück: Wir mussten erst nach Warschau. Dann nach Grainau. Ob im belagerten Warschau Krupps Druckerei noch Bestand hatte, hinterfragten wir nicht. Gregor Obermaiers Zuversicht, »der aalglatte Fisch hat erst letzte Woche einen Brief geschickt«, stützte unser Vorhaben. Ein Jude war er
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