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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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nicht, sein »Deutschsein« würde ihm zur Hilfe eilen, waren wir überzeugt. Und so zogen wir los.
    Es kam, wie es kommen musste. Schon in Hof trennten sich unsere Wege. Im Stadtkern fasste uns eine Militärgruppe auf.
    Ich konnte mich mittels verbaler Verbiegungen ohne großes Aufsehen als »sofort Verfügbarer« für das Militär einschreiben. Zu groß war meine plötzliche Angst, und schon begann das feige Spiel.
    Ignaz konnte rennen. Ich habe ihn von diesem Moment an für lange Zeit nicht mehr gesehen. Seine letzten Worte waren: »Aki, weißt du noch was Großvater Urban immer sagte?
    Das Leben ist ein Wunder.
    Wer sich darin aufhält ist ein Fabelwesen.
    Oder ein armes Schwein.
    Ich, Aki, ich werde ein Fabelwesen sein…«, und er zeigte Sporen, bevor das Militär an uns herantrat.
    Im Verschwinden drehte er sich zu mir um, und in seinem Lächeln lag die Überzeugung, mit einem Buch in der Mandlhütte zu erscheinen. Wenn es einer schaffen konnte, dann Ignaz.
    Lieber August, eine Moral muss es geben, das lehrte ich Dich. Doch in einer Zeit, in der das eigene Leben mitunter nur durch feiges Mitmachen gerettet werden kann, ist Moral wie ein Geist. Und ich war feige und geriet immer mehr ins Mitmachen. Vom einfachen Soldaten stieg ich zum Lastwagenfahrer auf. Und in dieser Funktion führte mich mein Weg ironischerweise nach Polen. Ich hatte bis dahin keinen Menschen getötet, und es sollte mir gelingen, dass ich es auch fürderhin nicht tun musste. Zumindest nicht mit eigenen Händen.
    Meine persönliche Aufgabe bestand im Überleben.
    Mein Wunsch war ungebrochen: Mandlhütte, Ignaz und ich – ein Leben danach. An mehr und was anderes konnte ich nicht denken.
    Als ich Ignaz wiedersah, hatte er zumindest Geschichten dabei. Geschichten auf Blättern, die mir der Wind zwischen die Beine wehte. In Treblinka ist das gewesen. Einem der schrecklichsten Vernichtungslager. Ignaz hatte es tatsächlich bis nach Warschau geschafft und war im Ghetto aufgegriffen worden.
    Das war im Frühjahr 1943, kurz vor dem Aufstand.
    Warum hat er von seinem Plan nicht abgelassen, als er der Realität des Krieges gegenüberstand und wusste, dass er mit seinem Leben spielte? War er verrückt geworden? Und was hat ihn ins Ghetto verschlagen?
    Vielleicht hat er sich in diesem ganzen Faschistenfasching als Soldat verkleidet, vielleicht als Frau. Vielleicht ist er einfach nur ohne zu stoppen gerannt. Im Rennen gegessen, im Rennen getrunken, im Rennen geschrieben, im Rennen geschlafen. Immer türmend vor den Schergen der NS, vor den Detonationen des Krieges und vor dem Tod persönlich, der hinter jeder Ecke lauern konnte, in all seinen hässlichen Facetten.
    Er muss gestohlen haben. Schreibstifte, Getränke, Papier, Nahrung. Er muss es sich erschlichen haben. Dem NS-Staat kam keiner aus – vor dem Krieg blieb niemand verschont. Hat sich Ignaz angepasst, um im falschen Moment Herrn Krupps Buchdruckerei zu finden? War Krupps Buchdruckerei gar im Warschauer Ghetto? Absolut unsinnig. War es ein dummer Zufall, der ihn dorthin brachte? Wie es auch gewesen ist, der listige Hund hat es immerhin bis nach Warschau gebracht. Kurz vorm Ziel schien er ins Straucheln gekommen zu sein.
    Man deportierte ihn nach Treblinka. Dort war auch ich. Unvorstellbar, aber ich kam hin und wieder über diverse Umwege als Transportfahrer in dieses Lager. Meine Aufgabe bestand im Ausliefern von Uniformen, Stiefeln, Textilien, Nahrungsmitteln, alltäglichen Gebrauchsgegenständen und so weiter. Zwangsläufig bekam ich dort die Ankunft der »Ratten aus dem Ghetto«, wie der Soldatenmund es formulierte, mit. Warum ich diesmal länger dem traurigen Schauspiel beiwohnte, muss innere Fügung gewesen sein. Denn wann immer es möglich war, entzog ich mich all diesen unfassbar grausamen Bildern, von denen ich ahnte, dass sie ein Leben lang meine schlimmsten Träume begleiten würden. Ein Mann wurde von einer LKW -Ladefläche geworfen, er wurde mit Stiefeln traktiert, bespuckt, er wand sich auf der Erde. Er war schwer gezeichnet, dem Tod näher als dem Leben, und ich erkannte nur, dass ihm etwas entrissen wurde. Eine Blechschachtel, darin zwei Bücher, alles herausgenommen aus einer Tasche, so schien es. Ich konnte nicht erkennen, wer der Mann war, sein Gesicht war entstellt. Erst, als ich die Blätter aufhob, die zwei Soldaten aus den Büchern herausrissen und die in meine Richtung wehten, erkannte ich die Schrift. Als ich begriff, dass es Ignaz’Handschrift war, dass es mein eigener

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