Grimms Erben

und Igel, wie passend, lieber August. Zum Frühstück wehte ein Duft frischer Bergkräuter durchs Fenster. Mein Radio waren die Vögel. In der Nacht hörte ich den Schrei der Eulen. Und selbst bei schlechtem Wetter hatte der Ort etwas Magisches. Der Winter brachte Unannehmlichkeiten, selbstverständlich, aber welch Wonne ein offener Kamin ist, wenn darin krachend das Holz Wärme spendet, musst Du erleben.
    Die Mandlhütte liegt abseits der Wanderwege, nur vereinzelt verirrten sich Wanderer in meine Gegend. Je nach meiner Gemütslage blieben die Menschen oder merkten, dass es sein Gutes hat, nicht bei der Mandlhütte zu vespern. Der Bauer Johann Bachhuber kam regelmäßig, brachte Lebensmittel und Schuhwerk aus dem Dorf, das ich reparierte. Das Verhältnis war gut. An manchen Tagen gar freundschaftlich.
    Ich hatte, was ich wollte. Ich hatte meine Welt. Eine ruhige und gelassene. Und das Gewissen beruhigte sich. Vorerst. Und für Jahre.
    Aber der Schwur war noch nicht geleistet! So begann ich wieder in meiner hölzernen Art Geschichten zu erfinden. Jedoch war ich mittlerweile sogar, fern von meinen Büchern, aus denen ich Dir immer vorlas, noch phantasieloser als vorher. Ich grub tief in meinem Gehirn nach brauchbarem Material. Vergebens. Mir wurde unwohl und mir war klar: Ich werde versagen und kann den Buchmanneid nicht einhalten. Vielleicht wunderst Du Dich, warum ich an den Details hängenblieb? Warum es unbedingt mehr Geschichten sein mussten? Warum ich nicht einfach Ignaz’fünf Geschichten binden ließ? Warum ich nicht einfach irgendwelche kopierten Plagiate in Grimms Erben steckte? Ich war es Pip schuldig. Und Scharlih auch.
    Wenn Du in den Zeiten des Krieges einen Schwur leistest, dann steht er nicht zwischen Dir und einer zweiten Person. Er brennt sich unter die Haut, unter die Nägel, in das Herz, in die Seele.
    Und die verbrannte Seele Deines Bruders lässt Dich so detailverliebt sein.
    Und deshalb bitte ich Dich, wenn es Dir möglich erscheint und als Aufgabe lösbar:
    Schreibe Du unser Buch! Du wirst es können und wollen.
    Schreibe Du »Grimms Erben«!
    Ich schicke Dir hiermit die rote, zerkratzte Blechschachtel. Darin die fünf Geschichten von Ignaz, die von seiner Odyssee durch Osteuropa übrig blieben. Und die Bleistifte, deren Kohlefasern deine Phantasie zu Papier bringen sollen. Ich hoffe, sie reichen aus.
    Falls Du es nicht willst, verschwende ab sofort keinen einzigen Gedanken mehr an diese Geschichte.
    Falls Du es tust, bringe ein Exemplar in die Mandlhütte. Frage in Ehrwald unten nach Johann Bachhuber.
    Liebster August, falls Du es hierherschaffst, ich werde nicht mehr da sein.
    Aber erschrecke nicht, hier liegt einiges Papier. Diesen Brief zu schreiben, ebenso der Versuch, Grimms Erben zu vollenden, kostete mich unzählige Seiten Papier, die nun zerknüllt um meine Beine liegen. Ein Meer bekritzeltes Pergament, mit unfertigen Gedanken darauf. Manches falsch ausgedrückt, manches falsch geschrieben, manches unleserlich vor Müdigkeit, und jeden Bogen, auf dem ich scheiterte, warf ich achtlos hinter mich. Papierkugeln des Versagens. Skizzen der Verzweiflung. Es ist lächerlich.
    Ich will sie nicht mehr wegräumen. Das Hochschleppen war schwer genug. Nun, liebster August, ende ich mit zitternder Hand. Mein nächster Gang wird nicht so schwer, wie jedes Wort, das ich in diesem Brief an Dich gerichtet zu Papier bringen musste.
    Verzeih mir, Dich verlassen zu haben.
    Ich danke meinem Bruder, ein Ziel gehabt zu haben.
    Ich danke meiner Tochter, Dich gehabt zu haben.
    Inniglich, ewiglich:
    Dein Großvater Zacharias

    Der Auftrag
    Mike van Bergen radebrecht mir einen Satz durch die Muschel. Aus dem Telefonhörer knattert Folgendes:
    »Tschosseff, you Wahnsinn. Das ist… i can’t find words. Have you seen the Spiegel-Bestseller-Liste?«
    Yes, I have.
    Mike van Stottern rumpelt weiter.
    »Wuuuhhhhh, that’s absolutly amazing. Ich habe es always gewusst, you hound!«
    Der Chef von PumpLine vergisst seine Prinzipien, so aufgebracht ist er. Als ob man von einem Sechser im Lotto erfahren würde, wenn Sie sich das kurz vorstellen wollen. Besser von einem Siebner, weil die richtige Zusatzzahl eigentlich den wahren Reibach garantiert. Van Bergen spricht deutsch. Stückweise. Und das habe ich von ihm noch nie gehört. Also muss sein Gehirn dermaßen overloaded sein, dass er seine internationale Businesssprache über den Haufen wirft.
    Mich wundert nicht sein Anruf, sondern woher er meine Nummer hat, das