Grimms Erben
Bruder war, dem man zwanzig Meter von mir entfernt die Pistole an die Schläfe hielt, krachte der Schuss.
Starr, machtlos stand ich stumm der Exikution meines geliebten Bruders gegenüber. Grauenvoll.
Mir gelang es zitternd, einige Blätter mit Ignaz’ Geschichten aufzufangen. Den Rest der Schreibbücher, die bis auf den letzten Fetzen zerrissen wurden, verwehte der Wind in der Luft. Hätte ich sie retten können, wäre womöglich sein Buch schon komplett gewesen.
So kam ich gerade mal an fünf Geschichten aus der Feder des vor meinen Augen erschossenen Bruders.
Ich steckte mir die Faust in den Mund, um nicht schreien zu müssen. Sofort machte ich kehrt, stopfte mir Ignaz’ Aufzeichnungen in die Manteltasche und übergab mich hinter einem Lastwagenanhänger. Ich nahm die von ihm mitgeführte Umhängetasche mitsamt der roten Blechschachtel an mich, mit dem Hinweis, sie entsorgen zu wollen. In der roten Schachtel bewahrte ich seitdem all die Jahre seine fünf märchenhaften Geschichten auf, und seine vier Bleistifte.
Begreifen konnte ich diesen Vorgang nicht. Ich drohte den Verstand zu verlieren. In tiefer Trauer und aus tiefster Überzeugung, nun endlich selbst Mut zu zeigen, beschloss ich zu desertieren.
Anstoß hierfür bekam ich von einem Kameraden, der in einem Führerhaus eines Opel Blitz LKWs Selbstmord beging. Ich fand den leblosen Mann eines Abends. Die Pulsadern hatte sich der in Berlin geborene Mann aufgeschnitten, nun saß er friedlich auf dem Beifahrersitz. Offenbar erachtete er das Führerhaus als geeigneten Rückzugsort für sein Lebensende. Ein deutscher Toter, der nicht mehr leben wollte, unter jüdischen Toten, die sich ans Leben klammerten. Ich habe in diesem Krieg Dinge gesehen, die passen in kein Gehirn. Dennoch, ein wenig beneidete ich den Mut des Selbstmörders, seine resolute Form der Fahnenflucht.
Ich durchsuchte den toten Mann, der Walter Albrecht hieß, und fand in seiner Innentasche seltsamerweise zwei Soldbücher. Eines gehörte ihm. Das zweite war recht lädiert und gehörte einem Berufssoldaten namens Locher. Wie es der Zufall wollte, trug er den Vornamen Zacharias. Einige Seiten fehlten, und Blut oder Dreckspuren säumten Einband wie Papier. Aber der ehemalige Besitzer des Dokumentes war Sanitäter und schien mir einigermaßen ähnlich gewesen zu sein.
Gleiches Geburtsjahr, blonde Haare, blaue Augen, die gleiche schlanke Statur bei gleicher Körpergröße. Warum der Soldat dieses Dokument bei sich hatte, ob Locher ein Verwandter, Bekannter, bereits verstorben oder noch am Leben war – ich weiß es bis heute nicht. Ich hinterfragte die Umstände auch nicht. Warum auch? Ich war mir nur sicher, dass mir das Soldbuch Lochers und die Leiche Albrechts einen Weg zur Flucht bereiteten.
Ich fingierte am nächsten Morgen einen Unfall mit diesem LKW , hinterließ brennendes Wrack und mich als verstorbenes Unfallopfer. Frontalzusammenstoß mit einer Eiche. Einer polnischen, die standhielt. Zacharias Buchmann war tot. Arbeitsunfall im Kriegsdienst, als er mit seinem LKW auf Besorgungsfahrt war.
Walter Albrecht wurde vielleicht als vermisst gemeldet oder als Deserteur ausgerufen. Ich war da schon einige Stunden auf meinem Heimweg. Zu Fuß vorerst. Später mit allen möglichen Hilfsmitteln. Als Zacharias Locher – wenigstens konnte ich meinen Vornamen behalten. Der Tausch meines Nachnamens bedeutete mir nichts. Nur dass ich vorerst nicht mehr nach Hause konnte. Ich war überzeugt, als Zacharias Locher ein ebenso guter wie schlechter Mensch zu sein wie als Zacharias Buchmann.
Eine strapaziöse, aber sichere Flucht brachte mich zurück nach Deutschland. In Passau täuschte ich einen weiteren Unfall vor, der einen abgerissenen Zeigefinger zur Folge hatte. Im Krankenhaus konnte ich mit einer wohldosiert gespielten Amnesie und einem Dokument, das mich als Zacharias Locher ausgab, dem Ende des Krieges entgegenblicken. Natürlich ein riskantes Spiel, aber gerade in der Höhle des Löwen fühlte ich mich sicherer als auf offener Straße. Keiner stellte Fragen zu meiner Person, ich war eben da und mein Finger eben nicht mehr. Ein verwirrter Soldat ohne Erinnerung. Zacharias Locher wusste nicht, woher er stammte, wohin er wollte, was sein Auftrag war. Angehörige wurden nicht ausgemacht. Diese Angaben fehlten im Soldbuch, und Zeit für solche Nachforschungen war nicht vorhanden. Zu viele Beinamputationen, Hautverbrennungen und schlimmere Verletzungen waren zu behandeln. Ich spielte den verwirrten
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