Grimms Erben
Herrlich!
Wenn Sie nun sagen, das ist doch alles an den Haaren herbeigezogen. Eine übertriebene Münchhausiade. So etwas dürfte es im wahren Leben doch niemals geben. Dann antworte ich Ihnen:
Etwa sechzig Millionen Menschenopfer durch einen Weltkrieg, den ein einziges Individuum durch Synapsenfehler im Gehirn anzettelte, DAS dürfte es niemals geben.
Ich lese wieder auf der Frontseite. Erhabene goldene Lettern:
Grimms Erben
Von August Locher & Ignaz Buchmann.
Und etwas kleiner im Eck.
Illustration: Josef Schmidt & Ole Olsen.
Ich klappe das Buch wieder auf. Seite fünf. Vorwort.
Mein Name ist Ignaz Buchmann.
Mein Leben endet nicht gerade märchenhaft an einer Mauer an diesem Frühjahrstag im Jahre 43. Meine liebsten Menschen, vor allem meinen Bruder, drücke und küsse ich hiermit bis in alle Ewigkeit.
Meinen letzten Verfolgern erkläre ich feierlich: Ihr habt mich wohl erwischt, aber das, wofür ihr mich jagtet, habt ihr nicht bekommen. Meine Gedanken.
Worte werden den totalen Sieg erbringen. Klingt seltsam, ist aber so.
Immer weiter,
Ignaz Buchmann
Dieses Buch ist ein Wälzer. Nicht, was die Anzahl der Seiten betrifft. Auch nicht im Vergleich zu literarischen Schwergewichten à la »Ulysses «, »Unendlicher Spaß« oder kafkaeskes Zeugs. Es ist ein Wälzer, da es sich geschichtlich durch die Zeiten des Krieges stampfte, durch Familienbanden und allen Widerständen zum Trotz vollendete.
Es ist ein beachtliches Buch voller Liebe, voller Widerstand und voller Kampf um Redlichkeit, Respekt und Akzeptanz. Seinen Ruhm und Erfolg verdankt es den Umständen und der Lust nach Sensation. Aber ist das schlimm, frage ich Sie? Wäre ein Egon Friedell so berühmt geworden, hätte er seinen Freitod nicht auf so humorvolle Weise aus dem Fenster des dritten Stocks angekündigt: »He da unten. Treten Sie zur Seite, ich springe jetzt!« Nein, sicher nicht.
Sie fragen, wer Egon Friedell ist?
Egal.
Es sind zwölf Geschichten oder Märchen oder Ereignisse, auf alle Fälle Fiktionen, die mich begeistern. Ich blättere zu meiner Lieblingsgeschichte, und als hätte ich Zuhörer, die ich an meiner Begeisterung teilhaben lassen will, lese ich laut und langsam. Ich finde meine Stimme hat was von Joachim Kerzel.
Als die Nacht den Tag angriff
(VON IGNAZ BUCHMANN)
VERWUNDERLICH, ABER DOCH
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Es war einmal ein Moment, den niemand mitbekam. Ein bedeutungsvoller Augenblick, um genau zu sein, dauerte dieser einige Stunden, der spurlos an uns Menschen vorüberschritt. Wäre das Gleichgewicht in diesem Augenblick um eine Nuance verändert worden, wäre es möglich, dass wir alle nicht mehr hier wären. Was war geschehen?
Es war Sommer. Um bei der Wahrheit zu bleiben, es war Mitsommernacht. Der längste Tag im Jahr brachte Feste, Lieder, Tänze und Fröhlichkeit in die Gemüter der Menschen. Nur schwer und langsam schleppte sich die Nacht heran. Als sie endlich da war, zogen sich die Leute zurück, müde und erschöpft von einem herrlichen Tag. Das passte der Nacht gar nicht. So populär der Tag war, so pragmatisch war die Nacht. Am Tag wird gearbeitet oder gefeiert, es herrscht Umtriebigkeit und Leben. In der Nacht walten Schlaf und Stillstand. Da kam Neid auf bei der Nacht.
»Hiermit fordere ich ein Duell! Ein Duell auf Hell oder Dunkel. Bis in alle Ewigkeit. Es soll herrschen Nacht, oder ich will für immer untergehen. «
Der Tag war schockiert über diese Drohung. Gab es doch seit Jahrmillionen eine förderliche Übereinkunft zwischen beiden. Natur und Mensch waren zufrieden. Nicht aber die Nacht. Sie zog gegen den Tag in die Schlacht.
Die Armee der Nacht führte Finsterlinge und dunkle Geschöpfe mit sich. Höhlen, Dunkelbiere und Schwarzmaler. Schwarze Ritter, Fürsten der Finsternis und dunkle Mächte. Der Mond und die Sterne, treue Wegbegleiter der Nacht, schlossen sich der Streitmacht an, genauso Nachtpflanzen, Kerzen und Glühwürmchen, die ohne Dunkelheit ihre Existenz verlören. Nachteulen und Fledermäuse flatterten als Luftwaffe übers Schlachtfeld. Das Ganze wurde begleitet von einer typischen nächtlichen Kälte, die Gänsehaut erzeugte. Sie rückten mit dem Nachtzug an.
Das Sonnenheer, die Streitmacht des Tages, stellte sich dem entgegen, wollte es nicht sein Dasein riskieren. Dort bäumten sich helle Köpfe und Tagträumer auf. Weiße Prinzen, Hellhörige und Sonnenkinder formten eine Bastion. Schattenwesen kämpften an der Seite des Tages, brauchten sie doch seine
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