Grimms Erben
Sonnenstrahlen zum Leben. Sogar Heller und Pfennig reihten sich ein. Glanzpunkte und Lichtungen bildeten zusammen mit Sonnenschirmen eine Artillerie der Helligkeit. Mit der Photosynthese konnte eine Geheimwaffe mitgeführt werden. Eine sich ausdehnende Wärme umschloss das Sonnenheer wie ein Schutzschild. Eine Tagesfahrt brachte sie zum Streitfeld.
Als die beiden Heere sich gegenüberstanden, mit den Waffen rasselnd und mit schäumenden Lefzen, bereit, für immer entweder Licht oder Dunkel zu erzeugen, brauste ein tosendes Rauschen auf. Immenser Lärm sorgte für eine Starre auf beiden Seiten, und ehe diese sich versahen, traten Ebbe und Flut in die Mitte der Streitheere.
»Tag!Nacht! Sonne! Mond!«, schrie die Ebbe.
»Hierher!«, befehligte die Flut die Angesprochenen. Alle vier wandelten benommen in die Mitte des Feldes. In Ehrfurcht erstarrt, denn niemand hob nur einen Finger. Die Flut fuhr fort.
»Willst du, Nacht, mit deinem Führer Mond vierundzwanzig Stunden Arbeit verrichten? Vierundzwanzig Stunden schuften und dich nie zur Ruhe setzen? Vierundzwanzig Stunden schwitzen, frieren, rackern, ohne dich auszuruhen und um Kraft zu tanken? Das siebenmal die Woche? Ich frage dich, willst du das?«
Die Nacht antwortete leise und eingeschüchtert:
»Nein, das will ich nicht.«
»Willst du, Tag, mit deiner Führerin Sonne vierundzwanzig Stunden Arbeit verrichten? Vierundzwanzig Stunden schuften und dich nie zur Ruhe setzen? Vierundzwanzig Stunden schwitzen, frieren, rackern, ohne dich auszuruhen und um Kraft zu tanken? Das siebenmal die Woche? Ich frage dich, willst du das?«
Der Tag antwortete kleinlaut:
»Sie hat angefangen«, und deutete trotzig auf die Nacht.
»Also«, verkündete die Ebbe, »schätzt euer Gegenüber. Respektiert die Andersartigkeit und mehr. Seid froh, dass ihr den ganzen Mist nicht alleine machen müsst. Wir brauchen das eine wie das andere. Warum sollten wir das ändern, was seit Jahrmillionen funktioniert? Lasst uns in einem offenen Bewusstsein leben. Jeglicher Raum braucht seine Füllung. Mit einer Vielzahl an Möglichkeiten. Und jetzt, Sonne und Mond, kommt in die Gänge, ich müsste seit zwanzig Minuten bei der Arbeit sein !«
Am selben Tag und auch in derselben Nacht konnte man bei ganz genauem Hinsehen einige Momente erleben, die einem verrieten, dass Nacht und Tag Frieden geschlossen hatten. Glühwürmchen tanzten mit Sonnenkindern. Nachteulen sangen mit Photosynthesen Blumenlieder. Schattenwesen umarmten Kerzenlichter. Glanzpunkte poussierten mit Dunkelbieren, und selbst der Nachtzug unterhielt sich mit der Tagesfahrt über den Kraftstoffverbrauch.
Es hätte schon sehr geschärfte Sinne gebraucht, um das alles erkennen zu können.
Was bleibt ist das: Ebbe und Flut sorgen immer noch für Chaos in der menschlichen Gefühlswelt— weil sie nicht gestorben sind.
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Ich klappe das Buch wieder zu. Kurz werde ich mir der Tragweite bewusst, unter welchen Umständen Ignaz Buchmann seine Geschichten notierte. Bevor ich dieses Gefühl greifen kann, flattert es gemein davon. Es wird wohl niemand ein Grauen verstehen können, an dem er nicht selbst beteiligt war. Ähnlich, natürlich nicht vergleichbar, ist es mit Situationskomik. War man nicht dabei, greift der Humor nicht. Was bleibt sind die Erinnerungen. Und aus Erinnerungen ist dieses Buch gestrickt. »Grimms Erben« ist ein Buch von Verrückten.
Von einem, der vorm Weltkrieg flüchtend fabulierte, auf der Suche nach einer Maschine, die seine Träume schmieden sollte, und deshalb als Deutscher ins Warschauer Ghetto sprang.
Von einem, der sich in der Neuzeit gegen Diskriminierung und Unterdrückung auf eine Art und Weise wehrte, mit der Quentin Tarantino seine Filme strickt.
Und von einem, der auf dem Berg Inspiration suchte, Pilze schluckte, und durch das Auffinden eines Selbstmörders, der mit dem fabulierenden Ghettospringer den Buchmanneid hielt, die Fäden wieder zusammenführte.
Wenn das alles nicht verrückt ist. Aber ich bitte Sie, ich kenne noch viel schlimmere Geschichten.
Müsste ich jetzt aber länger überlegen…
Da sitze ich nun hier, einem menschlichen Zahnrad gleich, das sich durch Ereignisse drehen lässt, das wiederum andere Zahnräder bewegt, infolgedessen Pendel zum Schwingen bringt und wiederum neue Ereignisse antreibt. Ich bin ein Teil eines Uhrwerks, das sich Leben nennt. Ein kompliziertes, ausgeklügeltes System, das ein Gesamtbild entwirft. Und würde nur ein
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