Grimms Erben
mit August Locher. Informiere ihn über Neuigkeiten und Vorkommnisse. Diese reißen nicht ab und sind an Kuriosität kaum zu überbieten. In die Schneise des Erfolges wollen sich nicht nur Schmarotzer einreihen, nein, auch die kreativsten Köpfe deutscher Blockbusterei. Kürzlich schwäbelte ein Produzent, der sich als Roland Emmerich ausgab, gigantische Ideen einer Locher-Verfilmung durch die Telefonverbindung. Er insistierte spannungsgeladen, er hätte seit Schätzings Schwarm nicht mehr so dringlich ein Buch verfilmen wollen. Ach, was sage er da, keine bisherige Idee verfolgte er mit einer solchen Intensität. Seine Produktionsfirma würde dieses Projekt als Topact des Jahres behandeln – ein leicht zu kalkulierendes Highlight der Cineastik. Arbeitstitel hierfür wären The Bavarian Alien oder Day of Justice, und bevor ich mich seiner Glaubwürdigkeit versichern konnte legte er auf mit den Worten: »Äh, Herr Schmidt, ich ruf Sie wieder an… Hey Tom, how are… klick…tuut tuut tuut.«Tom Cruise in der Hauptrolle? Heiliger Bimbam, bitte nicht.
Es war der gleiche Tag, an dem das Büro eines Wolfgang Petersen mir eine prägnante E-Mail schickte.
Guten Tag Herr Schmidt, bitte kontaktieren Sie mich. Grimms Erben muss verfilmt werden. Mit freundlichen Grüßen und im Auftrag von Wolle Petersen.
Am Abend läutete erneut das Telefon. Ich wog ab, ob Emmerich oder Petersen weiter über ihre Pläne referieren wollten, da hauchte mir eine Damenstimme ein freundliches Hallo in den Gehörgang. Sie klang wie Doris Dörrie. Die Geschichten wären voll phantastischer Wärme, Einfühlsamkeit und moralischem Spitzbubentum, sagte sie, und dass sie von Wort und Bild des Buches schwer inspiriert worden sei. Sie ersuche eine enge Zusammenarbeit, ob für eine filmische Umsetzung mit dem eventuellen Titel »Das Individuum«, Tarrach oder Thiel stünden für die Hauptrolle bereit, oder eine Neuinszenierung einer Oper namens »Augustus«, das ließe sich mit dem noch lebenden Teil des Buchautorenduos bestimmt abklären. Alles Beste und auf Wiedersehen aus München.
Solche Unglaublichkeiten geschehen in zeitlich kurzen Abständen. Ich teile sie August Locher mit. Er?
Er wartet geduldig auf seine Entlassung und hat das reinste Gewissen, das ich kenne. Er ist sich sehr sicher, dass er irgendwann für die Allgemeinheit nicht mehr als gefährlich eingestuft wird. Ich als winziger Teil der Allgemeinheit tue dies jetzt schon.
Ich sitze in meinem Ohrensessel, dessen Polster eher einer Tapete gleicht, aber extrem bequem ist. In meinen ruhigen, zufriedenen Händen liegt eine Ausgabe von »Grimms Erben«.
Ein Bestseller, an dem sechzig Jahre lang geschrieben wurde.
Ein Foliant über Moral und Freundschaft.
Über Liebe und Leid.
Über Gerechtigkeit und Gegenwehr.
Und über einen Eid, dessen Einhaltung über jegliche Gräuel und Unzulänglichkeiten erhaben war.
Ich streiche über die Vorderseite des Hardcovers. Ein in Burgund getauchter Stoffeinband, auf dem in goldenen dünnen Linien ein Mann mit Parka und Brille gestickt ist. Er steht in einem Hügel voll Papierkugeln. In den Händen hält er eine überdimensionale Schreibfeder und einen Molotowcocktail.
Ich blättere darin. Die Inhaltsangabe fällt auf. Ich fahre die gezirkelten Linien mit meinen Pupillen nach.
Von einem, der nicht mehr laufen wollte
Rückwärtsland
Das Imagistrat
Als der Tag die Nacht Angriff
Gebrüder Hunger und Durst
Die Pumpe und die brennende Luft
Das rasende Weiblein
Das Bretterjünglein
Das glühende Teilchen
Die Geisterbraut
Knüppel in dem Sack
Die fünf Kameraden und das ewige Lachen
Ich klappe zu und überlege kurz, wie viel Tonnen an Papier Zacharias Locher beziehungsweise Buchmann wohl für seine nicht brauchbaren Geschichten und seinen Brief an August verbraten hat? Wie viele Kilometer Ignaz Buchmanns Geschichten zurückgelegt haben? Wie viel Leid August Locher erfahren haben musste, bis er die Tatsachen, auf welchen seine Geschichten basieren, geschaffen hat?
Gelüftet ist das Geheimnis der Papierflut in der Mandlhütte. Wenn ich jetzt so zurückdenke, dann kommen mir die missglückten und zerknüllten Schreibversuche vor wie weiße Rosen aus Marzipan. Ein Sterbebett aus Blumen für den alten Locher, der durch seinen vehementen Drang, den Eid zu Ende zu führen, der Fadenspinner war.
Ein Rosenbett für den Fadenspinner!
Diese Vorstellung will ich archivieren.
Plötzlich muss ich lachen. Was für ein absoluter Wahnsinn das Ganze.
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