Grimms Erben
Drecksbagage, wie sie Aki nannte, wieder einmal auf Fasanenjagd ging, versteckten sich die beiden Buben im Dickicht, Stunden davor hatten sie sich ihr Lager ausgesucht, im Wissen, dass sich hier die potentiellen Braten paarten. Prompt sahen sie die Männer antanzen. Sie bliesen in alberne Holztröten und soffen Schnaps aus Feldflaschen. Ignaz und Aki scheuchten einige Fasane in ihrer Nähe auf, und sofort begann ein munteres Halali auf die Vögel, wobei der Schnapskonsum dafür sorgte, dass es eigentlich nur ein wildes Geballer war, und ein Wunder dazu, dass zum Beispiel der Hohnberger dem Holzner nicht das Auge oder mehr weggeschossen hatte.
Zwei der Fasane mussten das Zeitliche segnen. Von wegen Waidmannsheil – dem wirren Kreuzfeuer der Jagdbüchsen sei Dank.
Nun aber schlug die Stunde der Buchmannbuben. Sie sprinteten zu den abgestürzten Vögeln, ungeachtet der grünlich belodeten Jagdmänner, die sich lachend und lallend auf die Schulter klopften und Schnaps über ihre lächerlichen Pelzmützen kippten. Schnell verschwanden die beiden Bikauderer in Ignaz’ Sack, statt derer legte Aki zwei bearbeitete Mitbringsel in die Binsen. Bis die deutlich angeheiterten Jäger ihren Hunden Apportierbefehle zuriefen, waren die Buchmannbuben wieder in ihren Verstecken. Sie hätten viel gegeben, die Gesichter der fünf Jäger zu sehen, als die Hunde ihre Beute vor deren Füßen ablegten. Die dümmlichen Visagen konnten sie aber aus ihrem Rückzugswinkel erahnen. Kopfschütteln, Achselzucken, Blicke in den Himmel, Vergleich des Inhalts der Feldflaschen, Gesichtszüge voller Entgleisungen. Vor der Jagdgesellschaft hatten die beiden abgerichteten Hunde zwei Kaninchen mit angenähten Hühnerflügeln abgelegt. Wie zum Hohn streckten die Kaninchen den verdatterten Suffjägern zwei Schafszungen entgegen. Später sagte man in Freising, dieser Vorfall hätte Jägermeister Brandt den Verstand gekostet.
Aki würde sagen: »Geh weiter. Geh weiter bis zum Ende. Mach bis zum Ende.«
Was macht Aki eigentlich jetzt? Lebt er noch? Wo steckt er? Was mache ich jetzt nur? Gebe ich auf? Geh ich bis zum Ende? Was danach? Was davor?
Plagen über Plagen.
So ist das Leben. Es beginnt, schlägt einige Kapriolen, dann hört es auf. Jeder Mensch will natürlich möglichst viele Kapriolen schlagen – und möglichst lange. Er wünscht sich, bittet und betet, liebt und gibt und dreht sich im Kreis, bis sein Atem stillsteht. So einfach? Das Leben ist eine Geschichte, gesponnen aus tausend Geschichten. Ein Puzzle mit so vielen Teilchen, dass es einer retrospektiven Meisterleistung bedarf, es wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Ob das Gesamtbild des Puzzles nun schön ist, liegt am Willen und Einsatz eines jeden, könnte man meinen. Wäre da nicht eine Kraft namens Schicksal, die einem die eigenen Pläne um die Ohren pfeffert. Und ehe man sich verkuckt, sitzt man hinter einer Kofferwand – die rettende Mauer vor Augen –, so wie Ignaz gerade.
In einer kleinen Seitengasse, abermals gespickt mit Utensilien vertriebener Menschen, stapelte Ignaz einige Koffer und Kleidungsreste aufeinander. Eine letzte Rückzugsbastion, bevor er den finalen Fluchtakt aus dieser prekären Gegend versuchen will.
Er war mittlerweile an das wüste Stadtbild gewohnt. An das zerfledderte Hab und Gut, das von dem Leben und Streben anderer zeugte und ihn nun vor den Blicken seiner Häscher verbarg.
Aufgeregt wartete er hinter seiner Koffermauer. Momentan war dieses Versteck die Stätte der Ruhe vor dem Sturm. Sein »Freising«. So hatten sie als Kinder den Ort, an dem man beim Fangenspielen nicht berührt werden durfte, genannt. Hinter den Koffern fühlte er sich sicher. Unantastbar. Nicht greifbar.
»Freising«, sagte er müde vor sich hin.
»Freising.« Freising bei München, seine Heimat.
Sein Atmen machte ihm Sorgen. War es nicht viel zu laut und unüberhörbar.
Mein Name ist Ignaz Buchmann. Ich bin Schriftsteller. Ich verfolge eine Idee. Ich sitze wie auf Koffern in einem Ghetto, in das ich nicht gehöre. In das niemand gehört. So soll es nicht sein.
Noch eine Geschichte. Schnell. Wie ein Morphiumsüchtiger seine Spritze, so legte Ignaz seine für die Beruhigung nötigen Utensilien bereit. Sein kleines Büchlein fischte er aus der Schachtel. Ebenso den neuen Bleistift. Er küsste die Spitze der Kohlefaser und sagte: »Danke, Familie mit der schönen Bibliothek.« Gleichzeitig versetzte es ihm einen Stich. »Und Verzeihung. Ich bitte vielmals um
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